22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
mit einem befreundeten Stamm ein Fest zu feiern, zu dem uns dieser geladen hatte. Das war von den Dschamikun beobachtet worden, und darum gelang ihnen der Raub. Sie haben dabei fünf unserer Wächter getötet. Nun, kennst du unsere Pflicht?“
„Sie lautet nach euren Gesetzen: Blut um Blut!“
„Ja, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben, Blut um Blut! Auch wollen wir unsere Herden wieder haben. Du wirst es also begreiflich finden, daß wir einen Zug der Vergeltung gegen sie beschlossen haben?“
„Ich halte das nach euern Gesetzen für ganz selbstverständlich. Wann soll er unternommen werden?“
„Wir wollten schon morgen früh aufbrechen.“
„Ah! Das ist nun wohl nicht möglich?“
„Nein. Die Gastfreundschaft steht selbst über der Pflicht der Rache. Wir haben euch eingeladen, zu uns zu kommen, und wir müssen euch also zeigen, daß wir stolz darauf sind, euch bei uns haben zu können. Die Dinarun haben die Gastlichkeit niemals verletzt, sondern sie stets höher gehalten, als dies von den anderen in dieser Gegend wohnenden Stämmen geschieht. Ich hoffe, daß ihr uns die Ehre erweist, euch in jeder Beziehung als unsere Gäste betrachten zu dürfen. Welche Antwort gibst du mir?“
Wer die Gebräuche jener Völker nicht kennt, der erwartet natürlich, daß ich sofort und mit Vergnügen eingestimmt habe. Es schien ja geradezu als eine liebevolle Fügung des Schicksals betrachtet werden zu müssen, daß diese Einladung ausgesprochen wurde.
Besonders fiel hier der Umstand ins Gewicht, daß Halef von einer vielleicht schweren und langwierigen Krankheit bedroht war, welche eine Unterbrechung unserer Reise erheischte, damit ihm die so notwendige Ruhe und Pflege geboten werden könne. Aber die Sache hatte noch eine andere Seite, welche ich als vorsichtiger Mann nicht übersehen durfte.
Nach den Gepflogenheiten der Beduinen ist der ‚Gast‘ nämlich nicht etwa, wie bei uns, nur ein sogenannter ‚Besuch‘, dem man sich zu widmen und alle mögliche Aufmerksamkeit zu erweisen hat. Er hat nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, denn er ist für die Zeit seines Aufenthaltes bei dem betreffenden Stamm ein vollgültiges Mitglied desselben.
Ja, noch mehr: Das Wort ‚Gast‘ hebt ihn über die Mitglieder des Stammes empor, und wie sie außerordentliche Pflichten gegen ihn zu erfüllen haben, so wird auch von ihm eine größere als die gewöhnliche Hingabe an das Wohl und an die Interessen des Stammes gefordert.
Der Gast steht während seines ganzen Aufenthaltes in gewisser Beziehung sogar noch über dem Scheik und hat nicht weniger als dieser an allen Freuden, doch ebenso auch an allen Leiden seiner Gastgeber teilzunehmen.
Er würde als ehrloser Mensch betrachtet und behandelt werden, wenn er sich von einer Gefahr zurückzöge, welche denen droht, die ihn bei sich aufgenommen haben.
Die Frage Nafars hatte also einen zweifachen Klang, eine doppelte Bedeutung für uns. Sie lautete:
„Wollt ihr zu uns kommen und jede Unterstützung finden, deren ihr bedürftig seid?“
Wenn ich hierauf mit einem Ja antwortete, so war es mir dann unmöglich, zu dem hierauf folgenden Schluß ein Nein zu sagen:
„Wollt ihr zu uns kommen, um an dem Rachezuge gegen die Dschamikun teilzunehmen?“
Diese, wenn auch nur sehr kurze Erwägung war der Grund, daß ich nicht augenblicklich die erwartete Antwort gab. Darum warf mir der Scheik sofort die etwas pikiert klingenden Worte hin:
„Du zögerst, anzunehmen? Hälst du uns für Leute, deren Berührung eure Ehre beschmutzen würde?“
Diese Frage würde unter anderen Verhältnissen wohl auch eine andere Wirkung hervorgebracht haben; aber es war auf Halef Rücksicht zu nehmen, und wir hatten den Scheik ja auch schon daran erinnert, daß wir seine Gäste seien. Das konnten wir unmöglich zurücknehmen, und darum sagte ich in beruhigendem Tone:
„Man soll zwar rasch denken, aber nicht zu schnell sprechen, o Scheik! Ihr habt bisher als Freunde an uns gehandelt, und ich bin überzeugt, daß ihr das auch weiter tun werdet. Warum sollte ich euch mißtrauen? Warum an eurer Ehrlichkeit zweifeln? Als ich nicht augenblicklich antwortete, hatte das einen ganz anderen Grund.“
„Welchen?“
„Ich fragte mich, ob es uns wohl erlaubt sei, euch in der Weise zu belästigen, wie es geschehen wird, wenn wir darauf eingehen, für längere Zeit als nur heute eure Gäste zu sein.“
„Belästigen?“ wiederholte er mein Wort.
„Ja.“
„Ich weiß, daß du ein Christ bist.
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