22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
ein Christ. Die Nächstenliebe und Selbstlosigkeit, welche Isa Ben Marryam (Jesus, Mariens Sohn) von allen fordert, die sich nach seinem Namen nennen, ist bei dir nicht bloß ein leerer Schall, sondern sie leitet dein Leben, dein Reden und dein Tun. Ich aber kann dir leider jetzt, in diesem Augenblick, nicht den von dir geforderten Beweis erbringen, daß das, was ich sage, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Erst die Tatsachen des morgigen Tages werden dir zeigen, daß du mir heute Vertrauen schenken konntest. Wäre dieser Nafar Ben Schuri im gegenwärtigen Augenblick hier bei uns, so würde er eingestehen müssen, daß ich die Wahrheit über ihn gesprochen habe. Du sollst von mir erfahren, was diese Wahrheit sagt.“
Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: „Nafar hat als Oberster der Ausgestoßenen unten in Bagdad und Bassora Späher, von denen er alles für ihn Wichtige erfährt, was dort geschieht. Von ihnen kam die Kunde von euren herrlichen Pferden, von den unvergleichlichen Gewehren, welche euch beiden die Stärke eines ganzen Stammes verleihen. Man teilte ihm mit, daß ihr kommen würdet, und er nahm sich vor, euch diese Schätze abzunehmen. Er ließ euch unterwegs beobachten, ohne daß ihr es bemerktet. So erfuhr er, wann und wo ihr kamt. Euch offen zu überfallen, das wagte er nicht, weil er eure Waffen fürchtete. Darum entschloß er sich zur List. Ihr solltet seine Gäste sein und einen Schurb en Nom (Trunk des Schlafens) von ihm bekommen.“
„Bei ihm? Von ihm?“ unterbrach in Halef. „Das war doch nicht bei ihm!“
„Höre mich nur weiter!“ antwortete der Alte. „Man hatte am Wasser auf euch gewartet, weil anzunehmen war, daß ihr dort bleiben würdet. Ihr kamt. Man stellte sich bescheiden; man hütete sich, euch durch Aufdringlichkeit mißtrauisch zu machen. Darum war man in Verlegenheit, wie man euch den Schurb en Nom werde beibringen können. Da aber batet ihr selbst um Kaffee. Man tat den schon bereitgehaltenen Esjuhn (Opium) hinein und gab euch das Getränk, welches ihr trotz seiner Bitterkeit bis auf den letzten Tropfen zu euch nahmt. Dann schlieft ihr ein. Man wollte euch nur berauben, nicht ermorden. Aber selbst als ausgeraubte Männer hatte man euch zu fürchten, eurer Erfahrung, eurer Klugheit, eurer Kühnheit wegen. Darum mußtet ihr über die, welche euch den Trank der Schläfrigkeit reichten, im Irrtum sein; also ließ sich Nafar Ben Schuri gar nicht bei euch sehen, und darum lauerte er nicht mit allen seinen Leuten auf euch, sondern er schickte nur wenige Männer an das Wasser, welche dann nach Vollbrachter Tat leicht verschwinden konnten. – – – Diese Tat gelang, und der darauffolgende Regen deckte sogar ihre Spuren zu. Aber als man eben begonnen hatte, des vollbrachten Raubes froh zu werden, mußte man die Vergeblichkeit desselben erkennen. Eure Gewehre gingen von Hand zu Hand, doch niemand konnte entdecken, auf welche Weise man mit ihnen zu schießen habe. Sie waren für die Unwissenheit wertlos. Und eure Pferde ließen keinen Reiter aufsitzen. Man wollte sie zwingen, doch war die Folge, daß dabei zwei Männer verletzt wurden. Es galt also, die Geheimnisse der Pferde und der Waffen zu erfahren, und das konnte nur durch euch erreicht werden.“
„Allah, wallahi, tallahi!“ rief Halef zornig aus. „Wir werden diesen Schurken unsere Heimlichkeit derart offenbaren, daß ihnen vollständig unheimlich dabei werden soll! Sprich weiter!“
„Nafar Ben Schuri faßte den klugen Plan, als euer Retter aufzutreten. Er war überzeugt, daß die Dankbarkeit euch verleiten werde, eure Geheimnisse gegen ihn nicht als Geheimnisse zu betrachten. Man mußte euch da zwar alles wiedergeben, aber doch nur für kurze Zeit. Er schickte also die Täter nach einer bestimmten Stelle, wo sie sich ruhig überfallen lassen sollten, und ritt euch dann entgegen, denn er nahm ganz richtig an, daß ihr nicht umkehren, sondern weitergehen würdet, um nach den Übeltätern zu suchen. Auf welche Weise er diesen seinen Plan ausgeführt hat, das wißt ihr besser, als ich es weiß. Ihr habt ihm ja dabei geholfen!“
„Ja, das haben wir allerdings!“ gestand Halef ein. „Wir haben diesem Mann geglaubt und ihm vertraut. Wir haben ihm die Gefangenen überlassen und nicht einmal nach den Leichen und Gräbern derer gefragt, die ihr ihm getötet habt!“
„Wir? Ihm? Ja, ich weiß gar wohl, welche Fabel euch erzählt worden ist; aber wo es keine Leichen gibt, kann es auch keine Gräber geben.
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