22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
Es ist ihm kein einziger Mann getötet oder auch nur verletzt worden.“
„Was? Wie? So ist auch das eine Lüge?“
„Ja. Wir töten nicht! Unser Glaube verbietet uns den Angriff gegen das Leben derer, die selbst dann unsere Brüder sind, wenn sie die Torheit begehen, sich als unsere Feinde zu betrachten.“
„Allah! Welch ein Glaube! Welche Friedfertigkeit! So seid ihr also Christen?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht! Erst dann, wenn ich Christen kennen gelernt habe, kann ich dir sagen, ob wir welche sind. Nicht wir haben Blut vergossen, sondern Nafar Ben Schuri hat es getan. Seine Tat hat mir, grad mir das Herz so schwer, so tief verwundet. Und dieses Herz, es will laut auf um Rache schreien, weil ich ein Mensch mit menschlichen Gefühlen bin. Aber da oben, wo der Himmel in stillen Stunden für mich offen ist, da steht ein lichtes, großes Wort geschrieben, welches das irdische Gesetz der Rache überstrahlt. ‚Ed dem b'ed dem!‘ (‚Blut um Blut!‘) schreit das Menschenherz zum Himmel auf, wenn der Rauch vergossenen Blutes aufwärts steigt; von droben aber rufen tausend Engel ihr ‚es Samah!‘ (‚Verzeihung‘, ‚Gnade!‘) nieder, und bei diesem heiligen Gebot muß jede Wunde schweigen!“
Er war aufgestanden und ging, innerlich erregt, eine kleine Weile hin und her. Ich sah jetzt nicht den Schmutz, der sein Gesicht entstellte, und nicht die Lumpen, die ihn häßlich machten. Aber ich sah den tiefen Schmerz, der seine Augen füllte, und ich sagte mir, daß wir diesem Mann wohl vertrauen dürften. Als er sich beruhigt und wieder niedergesetzt hatte, sprach er weiter: „Ich will annehmen, daß ihr euern Bund mit Nafar Ben Schuri für zerrissen halten werdet, und betrachte es darum als keinen Fehler, euch schon jetzt zu sagen, was ihr eigentlich erst später erfahren solltet. Nämlich der Tir (Unterabteilung) unseres Stammes, zu welchem ich gehöre, hat sich von den anderen Dschamikun abgesondert, weil wir Mohammed zwar für einen Propheten, seine Lehre aber nicht für seligmachend halten. Wir sind nicht mehr Nomaden, sondern wohnen in Häusern, welche wir nur im Sommer mit Zelten vertauschen. Wir haben Gärten und Felder, welche wir bebauen, und Herden, deren Ertrag wir auf den Markt von Isfahan liefern. Unsere Ernten sind reich an Galläpfeln, Mastix, Manna, Sesam und Tabak. Mit dem letzteren Versorgen wir fast ganz Chusistan. In Beziehung auf den Ruf, in dem wir stehen, füge ich hinzu, daß sich unausgesetzt hundert unserer jungen Leute bei der Leibgarde des Schah-in-Schah befinden, obgleich der Beherrscher sehr wohl weiß, daß sie ihre Waffen niemals verwenden würden, unschuldiges Blut zu vergießen. Ich bin der Scheik und werde nicht bei meinem Namen, sonder Peder (Vater) genannt. Hoch über mir und allen anderen aber steht der Ustad, vor dessen Ehrwürdigkeit wir uns in Liebe und Gehorsam beugen. Ihr werdet ihn sehen; das hoffe ich.“
„Ist er in eurem Stamm geboren?“ erkundigte ich mich, indem ich an die Angabe Nafars dachte.
„Nein. Wenn du Auskunft über ihn haben willst, so wende dich an ihn selbst. Er ist für uns ein Bote des Himmels, für den wir keine solchen Fragen haben. Wir leben in steter Eintracht unter uns und halten Frieden mit allen anderen Menschen. Als wir uns um unseres Glaubens willen von den anderen Dschamikun trennten, wurden wir eine Zeitlang von ihnen heftig angefochten und sehr hart bedrängt. Nun aber haben sie eingesehen, daß dieser Glaube auch für sie nur Güte und nur Vorteil hat. Sie sind uns wieder Freund geworden. Zu hüten haben wir uns nur noch vor den Ausgestoßenen, welche euch gesagt haben, daß sie Dinarun seien. Sie leben nur vom Raub, wobei sie selbst den Mord nicht scheuen. Wir aber nennen sie nur Massaban (Die Unglücklichen), weil unser Chodeh (Gott) nicht will, daß wir diejenigen, welche uns leid tun, mit einem bösen Wort bezeichnen. Diese Massaban, deren oberster Anführer Nafar Ben Schuri ist, schwärmen in einzelnen Trupps überall herum, in der Absicht, zu ernten, wo sie nicht gesät haben. Aber wenn es einen größeren Streich gilt, finden sie sich schnell zusammen. Ein solcher war es, der uns betroffen hat. Unsere Männer waren fast alle auf einem Fest der Leng-i-Karun abwesend – – –“
„Ich denke, Nafar Ben Schuri war auf einem solchen Fest?“ fiel Halef ein.
„Das ist nicht wahr. Er überfiel uns während der Nacht, raubte alles, was er zusammenraffen konnte, und führte auch einen Teil unserer Herden mit sich
Weitere Kostenlose Bücher