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220 - Die Reise nach Taraganda

220 - Die Reise nach Taraganda

Titel: 220 - Die Reise nach Taraganda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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rannte auf die Wand zu, an der die Leiter hing. Die Menschen auf dem Dach feuerten ihn an.
    Rulfan schob sich den Säbel unter den Gürtel und streckte die Arme aus. Dicke Muskeln traten aus seinen Oberarmen hervor, als er empor hangelte.
    Kräftige Arme reckten sich ihm entgegen und zogen ihn über eine steinerne Brüstung. Rulfan warf einen schnellen Blick in die Runde. Ja, es waren Menschen. Weiße? Schwarze? Mischlinge? Schwer zu sagen. Er nahm vier Männer, drei Frauen und fünf Kinder wahr. Flinke Frauenhände rissen die Strickleiter hoch. Enttäuschtes Gebrüll kam aus der Tiefe. »Außer Rand und Band«, hörte Rulfan jemanden sagen.
    Er lag auf dem Rücken, keuchte und stellte Fragen. Seine Retter antworteten: Ja, sie gehörten zu Lays Stamm. Was passiert war? Unerklärliches. Die Erde hatte gebebt, wie am Tag zuvor. Die Vögel, die traditionell die Brosamen jeder Mahlzeit erhielten, waren nach dem Verzehr wie tot von den Bäumen gefallen.
    Die Zilverbaks waren nach dem Essen verrückt geworden. Sie hatten ihre Sprache vergessen und sich wie Raubtiere benommen. Die Menschen dagegen hatten große Angst empfunden, Panikattacken, Orientierungslosigkeit, doch nach einer Stunde war alles wieder abgeklungen. Genau das hatte auch Rulfan erlebt, nachdem er aus dem Teich getrunken hatte!
    Die Menschen waren aus Taraganda geflohen. Vier von ihnen waren auf der Flucht ums Leben gekommen. Die Zilverbaks hatten sich auf sie gestürzt und sie zerrissen. Der Rest des Stammes hatte sich durch den geheimen Gang in den Talkessel und die Alte Stadt geflüchtet, die man seit ewigen Zeiten kannte.
    Die Bruchstücke fügten sich zusammen. Rulfan verstand nun viel mehr: Die Ohnmacht der Vögel, das mörderische Verhalten der Gorillas, die Angstzustände ihrer menschlichen Gefährten: Alles war nach dem Essen passiert.
    Es gab nur eine Erklärung: Das Trinkwasser aus dem Dorfteich war verseucht. Doch Mensch und Tier reagierten unterschiedlich auf das Gift.
    Was sollten sie tun? Rulfan warf einen Blick über die Steinbrüstung. Unten war niemand mehr zu sehen. Die Zilverbaks hatten sich zurückgezogen. Berieten sie eine neue Taktik? Waren sie überhaupt noch in der Lage, klar zu denken?
    »Ich weiß nicht, wie lange die Wirkung des Wassers bei mir angehalten hat…«, Rulfan stützte sich auf seine Klinge, »aber nach meinem Dafürhalten muss das Gift, das auf die Zilverbaks einwirkt, irgendwann nachlassen, es sei denn…«
    »Oh!«, rief eine Frau hinter Rulfan und deutete mit ausgestrecktem Arm nach links. »O nein!«
    Rulfan fuhr herum, hob den Säbel.
    Sein Herz setzte einen Schlag aus.
    Aus den hohen Bäumen, die ihre Zuflucht umgaben, schwang sich ein Dutzend zähnefletschender Zilverbaks an Lianen zu den Menschen hinüber…
    ***
    Zanda, 2015
    Als Omar Ostwald mit einer schmerzhaft pochenden Beule am Hinterkopf aus der Bewusstlosigkeit erwachte – er hatte sich dummerweise gegen Jussufs Männer gewehrt –, fand er sich in einer eiskalten Zelle wieder.
    Er wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war, denn seit dem Ausbruch des nuklearen Winters war es draußen immer dunkel.
    Nachdem er eine Stunde vor sich hingebrütet hatte, hörte er das Klirren eines Schlüsselbundes.
    Kerzenlicht erhellte sein Gefängnis. Ostwald setzte sich auf die Pritsche und musterte den Besuch: Farah. Sie scheuchte den Wächter hinaus, der sie eingelassen hatte, und reichte Ostwald eine Wolldecke. Er wickelte sich dankbar darin ein.
    Dann reichte Farah ihm ein Stilett. »Töte dich selbst. Es ist besser als der Tod unter der Folter.«
    »Weißt du, warum Jussuf mich töten will?«
    Farah zuckte die Achseln. »Weil du mich nur benutzt hast.«
    Ostwald erschrak. »Hat er das gesagt?«
    Farah nickte. »Du hast dich nur in mein Vertrauen eingeschlichen, um ihn zu töten.«
    Ostwald schluckte. »Warum sollte ich ihn töten wollen?«
    »Du hattest keinen Grund. Du hast im Auftrag eines Mannes aus Deutschland gehandelt, der geglaubt hat, mein Bruder hätte den Tod seiner Tochter verschuldet.«
    »Glaubst du deinem Bruder?«
    »Nein. Ich liebe dich.«
    Ostwald zog sie an sich und küsste sie. Er fühlte sich verlockt, ihr die Wahrheit zu erzählen, aber die Gefahr, dass sie ihn falsch verstand, war zu groß. »Ich liebe dich auch, Farah«, sagte er. »Lass uns fliehen.«
    »Wohin denn?« Farah schmiegte sich an ihn. Ostwald empfand ihre Körperwärme als wunderbar. »Draußen herrscht ewige Nacht. Die ganze Welt ist vereist. Neunundneunzig Prozent der Menschen

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