223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Hajduböszörmény, die Treppe heruntergestürzt. Klein, der als einziger von allen im Lager noch einen halbwegs passablen Anzug besitzt und ein feiner, zurückhaltender Mensch ist, bleibt am Fuß der Treppe mit einem seltsam verdrehten rechten Arm und einer blutenden Kopfwunde liegen. Der Schein einer Taschenlampe nähert sich ihm, und schon wird er von einem der Uniformierten ins Bewusstsein zurückgetreten. »Simulant!«, brüllt der SS-ler und legt ordentlich Kraft in jeden seiner Tritte. »Dreckiger Simulant!« Hinter dem die Stiege herabgestürzten Klein folgen ängstlich und verwirrt, nervös und immer wieder stolpernd alle 21 Männer, die im ersten Stock der mittleren Baracke genächtigt haben, von dem 20-jährigen Erwin Ullmann aus Debrecen über den 29-jährigen Holzhändler József Fränkl aus Tasnad bis zu dem 61-jährigen József Bihari, der die Treppe herunter wankt wie ein Untoter, schwach vor Sehnsucht nach seiner wohl längst vergasten oder sonstwie ermordeten Frau.
»Hopp auf! Schneller! Schneller!«, treiben sie die SS-Männer hinter und vor ihnen an.
»Ja, wollt ihr Schweinejuden etwa nicht arbeiten?! Na, wir werden es euch schon noch beibringen!«, brüllen sie unter Einsatz der Kolben ihrer Gewehre und Pistolen. Die Lichtkegel von 2 Taschenlampen nähern sich fuchtelnd der Barackentür, dem einzigen Eingang in dieses Massenquartier.
»Es soll nur ja keiner von euch Schweinejuden versuchen, sich zu drücken, wir haben eine Namensliste!«
Regina Varga hat sich aufgesetzt, ihr Mantra wirkt nicht mehr. Im Schein der Taschenlampen der beiden hinteren SS-Männer, die den Stock geräumt haben, sieht sie, wie Dezsö Stern und Pál Feldmesser überhastet und hochnervös Albert Klein an den Schultern hochziehen und durch die Baracke schleifen.
Zum Abschied brüllen die Uniformierten noch etwas von einem Arbeitseinsatz in den Panzergräben, der morgen im Ort stattfinden soll, in die Baracke. Daher der Zählappell.
Regina Varga glaubt ihnen nicht. Sie ist sich sicher, dass die SS die Männer noch heute in die Panzergräben treiben und die ganze Nacht graben und schaufeln lassen wird. Vernichtung durch Arbeit, denkt sie. József Bihari und Albert Klein werden diese Nacht wahrscheinlich nicht überleben, denkt sie, Gott gnade ihnen, und wundert sich über diese unvermutete Anrufung des Allerhöchsten. Einen religiösen Gedanken hat sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gedacht.
Bèla Berger friert. Er hat zwar wie immer in seinen sämtlichen Kleidern geschlafen, aber die bestehen eben nur mehr aus einer dünnen, vielfach geflickten und gestopften Zwirnhose, einem fragmentarischen Sommerhemd voller Löcher und einer mehrfach geflickten Leinenjacke. Zudem hat es auch noch zu nieseln begonnen auf die 65 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter, die vor den Baracken zum Appell angetreten sind.
Mit 54 Jahren, denkt er, friert man halt leichter als diese jungen Burschen in den Reihen vor ihm, von denen die meisten das Käppi des Arbeitsdienstes der ungarischen Armee tragen. Ein wahres Wunder, dass diese 14 jungen Männer, die sich erst heute mehr tot als lebendig ins Lager geschleppt haben, überhaupt noch am Leben sind, überlegt er weiter. Bereits im März 1939 wurde den jüdischen Bürgern Ungarns der Wehrdienst mit der Waffe in der Hand versagt. Stattdessen wurden sie als eine Art militärischer Arbeitsund Hilfsdienst zu den Honved-Regimentern einberufen und mussten sich auf der untersten Ebene der militärischen Hierarchie in den Ausbildungskasernen selbst von den einfachsten Soldaten schikanieren lassen. Einige von ihnen wurden schon während der Ausbildung bis aufs Blut und manchmal zu Tode gequält. Ab 1941 wurden sie nicht einmal mehr wert befunden, die Uniform der ungarischen Armee zu tragen, an deren Seite sie aber in den Krieg gegen die Sowjetunion ziehen mussten. Rund 50.000 unbewaffnete, jüdische Arbeitsdienstler in Zivilkleidung mit gelben oder weißen Armbinden und lächerlichen Käppis hatten die ungarischen Truppen bis an den Don zu begleiten und unter Einsatz ihres Lebens zu unterstützen. Man zwang sie zur Räumung von Minenfeldern, zum Stellungs- und Straßenbau, zur Durchführung von Munitionstransporten, und die Zahl der Verluste stieg rasch. Bei einer russischen Gegenoffensive am Don fielen allein im Jänner 1943 rund 6.000 von ihnen. Die Deutschen, denkt Bèla Berger, haben die ungarisch-jüdischen Arbeitsdienstler, wo immer sie ihrer habhaft werden konnten, zum Schanzen, zum Bau von
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