223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Uhr morgens lässt es sich Krankenhausverwalter Franz Güttler nicht nehmen, persönlich in der Typhus-Baracke zu erscheinen und seinen 6 Gästen, deren Beherbergung ihn den Kopf hätte kosten können, die Tatsache ihrer Befreiung mitzuteilen. Unter der großen, dunklen Hornbrille ist sein Gesicht fahl und spitz, die Anspannungen der letzten Tage und Wochen sind ihm deutlich eingeschrieben. Franz Güttler ist alles andere als eine überschäumende Natur, was sich in seiner nüchternen, seriös-sympathischen Mimik widerspiegelt. Umso spektakulärer wird dieses Gesicht nun, als der Krankenhausverwalter seine frohe Botschaft in der Baracke verkündet, von einem stillen, intensiven Lächeln erleuchtet, ja geradezu verklärt. Gemeinsam mit seiner Tochter Inge und deren kleinem Sohn Peter führt er die Überlebenden zum oberen Ausgang des Krankenhauses, wo bereits Personal und ausgehfähige Patienten am Straßenrand warten. Gegen 10 Uhr marschieren die ersten russischen Truppen hier vorbei und in Melk ein, staubbedeckt und müde von den Kämpfen und Märschen. Unter den Menschen vor dem Melker Spital brandet keinerlei Jubel auf, aber von vielen fällt eine große Angst ab, die bald durch eine neue Angst ersetzt werden wird. Die sowjetischen Befreier werden die Stadt und ihre Bewohner nicht gerade mit Samthandschuhen anfassen. Die Gruppe um Dr. Weisz bleibt noch rund 2 Wochen im Krankenhaus Melk. In dem Chaos und Wahnsinn der ersten Zeit, in den Wirren des Kriegsendes stehen sie Franz Güttler und seinem Haus bei. Wann immer sie gerufen werden, verhandeln Dr. Weisz und seine Leute mit oft aggressiven, viel öfter noch betrunkenen Sowjetsoldaten, intervenieren bei der Kommandantur, versuchen die Russen dazu zu bringen, dem Krankenhaus Lebensmittel und medizinisches Material zuzuteilen. All das ist durchaus auch mit Gefahren verbunden, aber sie fürchten sich vor nichts und niemandem mehr.
»Die Russen sind da!« Die Stimme des Bauern dröhnt an diesem frühen Morgen des 10. Mai 1945 durch den Stadel, in dessen hinterstem Winkel die Freunde Franz Moser und Tibor Yaakow Schwartz in ihren Heunestern schlafen.
Ein unbändiger Jubelschrei des jungen Franz ist die Antwort. Der Halbwüchsige kriecht rasend schnell aus seinem Versteck, springt aus dem Heustock, landet vor den Füßen des Bauern, rennt an diesem vorbei, in rasenden, jagenden Sprüngen auf den benachbarten, elterlichen Hof zu.
Mit kleinen Augen sieht ihm der Bauer nach. »Lass uns zum Grab deiner Mutter und deiner Schwestern gehen«, sagt er schließlich sehr leise.
Unendlich beschwert kriecht Tibor Yaakow Schwartz über den Heustock und rutscht über dessen vordere Kante vor die Füße des Bauern. Als er auf seinen zitternden Beinen vor Georg Forsthofer steht, strömen Tränen über sein schmales Gesicht.
»Die beiden Männer, mit denen du hier angekommen bist, haben es auch überstanden. Der Johann Stadler hat sie aufgenommen«, sagt der Bauer hilflos. »Johann Stadler, Vieltrift 128, Post Weins, merk dir das!«
Vor dem Stadeltor warten Marton Rosenthal und der noch immer sprachlose, junge Mann aus Miskolc. Ihre Wunden scheinen ein bisschen zusammengeheilt zu sein, aber ihre Gesichter sind angespannt und blass. Der 65-jährige Rosenthal umarmt den Buben. Es ist die Stunde ihrer Befreiung, wie traurig und elend sie auch sein mag.
Währenddessen erschießt der Kommandant des Gendarmeriepostens Persenbeug, der Gendarmeriemeister Engelbert Duchkowitsch, in seiner Privatwohnung im Feldmüller-Haus in Persenbeug Nr. 19 seine Ehegattin Gisela sowie seine 3 Kinder Josef Günther, Erika und Gerlinde im Alter von 15, 6 und 4 Jahren und richtet sich danach selbst mit Kopfschuss. Die Beweggründe für seine Tat nimmt er mit ins Grab. Für Duchkowitsch waren Mord und Selbstmord vielleicht ebenfalls so etwas wie eine Befreiung. Eines muss man Georg Forsthofer lassen: Außer davor, hinterrücks verhext oder mit einem Fluch belegt zu werden, fürchtet er sich vor nichts und niemandem. Auf dem Marktplatz von Persenbeug, wohin er Tibor Yaakow Schwartz und die beiden Männer geführt hat, spricht er den erstbesten russischen Soldaten an und verlangt die teilweise Öffnung des Grabes der ermordeten Juden, damit 3 Verwandte der Opfer auf menschenwürdige Weise Abschied nehmen können. Marton Rosenthal assistiert ihm, indem er die Bitte in ziemlich schlechtem Kroatisch wiederholt. Irgendwie versteht der Sergeant und marschiert schließlich mit 2 herbeigerufenen Gemeinen und der
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