2232 - Wiedergeburt
aufeinander schlagen. Ich muss mich bewegen, das weiß ich, das hat man mich gelehrt. Sonst erfriere ich.
Erfrieren soll ein schöner Tod sein. Man schläft einfach ein, dämmert hinüber, wohin auch immer. Will ich das?
Wenn ich wüsste, wer ich bin, wüsste ich vielleicht auch, was ich will.
Ich verschränke meine Finger ineinander und drücke sie, so fest ich kann. Aua.
Dann zähle ich sie ab. Es sind zweimal fünf. Aus den Sandalen ragen ebenso viele Zehen.
Ich taste weiter. Aha, ich bin symmetrisch aufgebaut, besitze je zwei Arme und Beine, Augen und Ohren. Meine Haut ist warm und glatt, nicht kühl und geschuppt wie Yolindis. Ich habe eine kleine, rundliche Nase und weiche, feuchte Lippen – keine harte, vorspringende Schnauze mit Nüstern, die sich durch eine Membran verschließen lassen. Und ich habe, jetzt fällt es mir wieder ein, im Unterschied zu Yolindi auch keine Geschwister oder Sippschaft.
Vielleicht sind sie deshalb in der Schule so streng zu mir. Vielleicht schauen mich die Betreuer deswegen so eigenartig an, wenn sie glauben, ich bemerke es nicht. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ich mich nicht daran erinnere, wie ich aussehe.
Weil ich so hässlich bin, dass ich meinen eigenen Anblick nicht ertragen könnte.
Später muss ich mich aufgerafft und begonnen haben, auf allen vieren weiterzukriechen. Ich halte mich ganz nah an der rechten Wand. Beizeiten spüre ich, dass meine Knie wund werden. Auch meine Hände bluten, weil ich sie mir an spitzen Steinen aufgeschürft habe.
Aber es tut nicht sehr weh. Ich bin am ganzen Leib so gut wie taub, wegen der Kälte. Werde ich jemals wieder eine Sonne sehen?
Habe ich schon jemals eine Sonne gesehen?
Doch. Weit, weit vor mir ist eine. Wenn auch nur eine ganz kleine, rostrote, schwache.
Ich krieche auf sie zu. Erst, als ich nur noch wenige Handbreit davon entfernt bin, erkenne ich, dass es sich gar nicht um eine richtige Sonne handelt, sondern um Yolindis Taschenlampe. Einer ihrer Stiefel liegt gleich daneben. Und ihr Rucksack.
Das Licht ermattet, trübt sich, flackert. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.
Mühsam, mit fliegenden, kaum noch einer kontrollierten Bewegung fähigen Fingern öffne ich den Rucksack. Darin befindet sich Igor Strawanzky, der Robo-Kater.
Ich hebe ihn heraus. Beim vierten Versuch gelingt es mir, ihn einzuschalten.
Seine weißblauen Augen strahlen viel heller als die Lampe. Das bedeutet, dass seine Speicherzellen noch wesentlich intakter sind als ihre.
Erleichtert lehne ich mich an die Wand. Jetzt kann ich einen um einiges größeren Bereich der Grotte überblicken.
„Schnurr", ertönt es aus Igor Strawanzkys Lautsprecher. „Schnurr, schnurrli, schnurrdiburr."
Er stellt den Schwanz auf, macht einen Katzenbuckel, gähnt täuschend echt und läuft zu einem Bündel, das zwischen zwei Stalagmiten eingeklemmt ist. Er schnurrt wie verrückt. Aber das Bündel reagiert nicht, sooft der Robo-Kater es auch anstupst. Weil es nur aus zerfetzter Kleidung und Schuppenhaut besteht.
Und aus Knochen, fein säuberlich abgenagten Knochen.
4.
Überstunden Dieser Bereich der Innenstadt stammte offensichtlich noch aus der Zeit vor der arkonidischen Annexion des Hayok-Sternenarchipels.
Irgendwie war er von der Umgestaltung durch die Architekten des Kristallimperiums verschont geblieben. Der schlechte Zustand der Gebäudesubstanz legte die Vermutung nahe, dass es sich um Spekulationsobjekte handelte.
Einstmals musste dies eine der besten Adressen des gesamten Hayok-Archipels gewesen sein. Der Stil der Bau werke, die den lang gestreckten, rechteckigen Platz umgaben, vermittelte jene unprätentiöse Gelassenheit, die nur in Verbindung mit großem Reichtum und gut abgesichertem Wohlstand auftrat.
Eindeutig Neo-Terr-Art-Deco, dachte Filana Karonadse. Klare, zugleich verspielte Linienführung; gewaltige, durch die Gesamtdimensionierung dennoch schlank wirkende Säulen; reichlich Zierelemente, ohne dass der Eindruck von Überladenheit erzeugt würde ... sehr geschmackvoll, sehr schön.
Ewig schade, dass man diese Pracht hat verfallen lassen!
Vom Blattgold der ausladenden Kuppeln über den hohen Eingangsportalen waren nur noch einige winzige, stumpf schimmernde Fleckchen zu erahnen. Die Friese und Reliefs zwischen den Balkongalerien hatten der Witterung ebenfalls Tribut zollen müssen. Sie waren bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen worden, desgleichen die Statuen und Wasserspeier hoch oben an den Kanten der Dächer.
Eventuell
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