2236 - Der Finger Gottes
tun. Die Wölfe würden uns zerreißen."
Ein schriller Pfiff ertönte. Im gleichen Moment ließen die Raubtiere von ihrem Opfer ab und kehrten hechelnd in die Gärten der Arkoniden zurück.
Dando lief zu dem heftig blutenden Mann hin, der regungslos auf dem Boden lag. Auf den ersten Blick sah er, dass er schreckliche Wunden davongetragen hatte, von denen jede einzelne tödlich sein konnte. Mehrere Arterien waren offen. Pulsierend schoss das Blut heraus. Nicht eine davon war schnell genug zu schließen. Dando wusste, dass es keine Hoffnung mehr gab. „Es wird wieder gut", versuchte er dennoch, den Verletzten zu trösten. „Die Götter werden wissen, warum sie dies geschehen ließen. Es ist eine Prüfung für dich. Sie zeichnet dich aus und bringt dich den Göttern näher."
„Näher bringen sie mich ihnen - aber auf eine andere Weise, als mir lieb ist", stöhnte der Mann. Er hustete krampfhaft. „Doch darauf verzichte ich gern."
Schockiert blickte Dando ihn an. Nie zuvor in seinem jungen Leben hatte er gehört, dass jemand die Götter und ihre Taten kritisierte oder in Frage stellte. „Verflucht sollen sie sein, die Arkoniden", brachte der Verletzte mühsam hervor. „Mögen die Tiefschrecken sie holen und ..."
„Sei still", bat der Junge erschrocken. „Sie sind im Auftrag der Götter bei uns."
„Im Auftrag der Götter! Daran glaube ich schon lange nicht mehr, mein Junge. Es ist eine unverschämte Lüge", flüsterte der Sterbende. „Ebenso der Finger Gottes ..."
Dando stutzte und beugte sich über ihn. „Wovon sprichst du? Was soll das sein - >der Finger Gottes"
Er erhielt keine Antwort mehr. Das Blut pulsierte nicht mehr aus den Wunden, es rann nur noch, und die Bewegungen des Mannes erloschen. Seine Augen brachen.
Otarie legte Dando die Hand auf die Schulter. „Es ist vorbei", sagte sie leise und einfühlsam. „Wir nehmen ihn mit und übergeben ihn den Schaspaken."
Er verharrte noch für einige Atemzüge auf der Stelle, dann schob er seine Arme unter den geschundenen Körper des Toten und hob ihn hoch. Dabei blickte er sich unwillkürlich um. Die Weißen achteten nicht auf Otarie und ihn. Sie standen beisammen und redeten miteinander. Keiner von ihnen wandte sich ihm zu. Aber auch die Caiwanen in der Nähe zeigten nicht das geringste Interesse für ihn und das Opfer der Graswölfe. Einige von ihnen gingen in ihrer Nähe vorbei, und keiner von ihnen schien wahrzunehmen, welche Tragödie sich abgespielt hatte. Ein paar Männer saßen auf einer Dachkante. Sie ließen die Beine herabbaumeln und blickten in die Ferne. Teilnahmslos.
Dando folgte Otarie bis ans Ufer eines kleinen Sees. Hier reihten sich zahllose Mulden aneinander, jede groß genug, den Leichnam in sich aufzunehmen. Er legte den Toten in einer Mulde ab, und Otarie bedeckte ihn mit Zweigen und Gräsern, die sie in der Umgebung einsammelte. „Mögen dich die Schaspaken ins Reich der Götter tragen", gab Dando dem Toten mit auf den Weg.
Dann ergriff er die Hand des jungen Mädchens und ging mit ihm am Ufer des Sees entlang, bis sie eine kleine Landzunge erreichten. Im Schatten eines Haukunda-Buschs setzten sie sich ins Gras.
Otarie zupfte eine Blüte ab und schob sie sich über der Stirnmitte unter die Hörmuschel. „Hast du schon mal vom Finger Gottes gehört?", fragte er. „Was meinte er damit?"
„Das ist der Tempel aller Götter und aller Göttinnen", antwortete sie. „Aller?", staunte er. Seines Wissen hatte jeder der vielen Götter und jede der Göttinnen des caiwanischen Volkes einen eigenen Tempel. Nie zuvor hatte jemand erwähnt, dass es einen Tempel gab, den sie sich alle miteinander teilten. „Aller", bestätigte sie. „Owara Asa Tagakatha hat es überall auf Caiwan verkündet. Die Götter haben den Tempel schon viele Jahre vor der Ankunft der Weißen auf unserer Welt errichtet. Vielleicht schon vor Jahrtausenden. Wann es war, kann selbst Owara Asa Tagakatha nicht sagen."
„Wo steht dieser Tempel?"
„In den Bergen. Eine halbe Tagesreise von hier." Nachdenklich musterte sie ihn. „Du willst ihn sehen? Du willst dorthin?"
Dando legte die Hände vor das Gesicht und schloss seine acht Augen. Die Federn schmiegten sich eng an seine Arme. „Ich weiß nicht. Ich bin unsicher geworden. Wie können die Beauftragten der Götter so grausam sein? Einige von ihnen haben noch nicht einmal hingesehen, als die Graswölfe den Mann getötet haben. Es war ihnen vollkommen gleichgültig."
Sie erinnerte ihn nicht daran, dass er
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