226 - Das Schädeldorf
Meter hoch, einen Meter breit und einen Meter tief waren die Kästen. In einem von ihnen kauerte Lann Than. Bei jeder Bewegung bohrte sich Draht in seine Haut. Mund und Hals waren ausgetrocknet und fühlten sich wund an. Ihm war schlecht vor Hunger und von dem Gestank nach Exkrementen und Verwesung.
Als er gestern Abend von den Feldern zurückgekehrt war, hatte man ihn in diesen Verschlag gesperrt. Ohne Wasser, ohne die übliche Abendration und ohne einen Grund zu nennen. Jetzt beobachtete er durch die Stahlmaschen seines Gefängnisses die Kinder, die sich in seinem Blickfeld aufhielten. In den vergangenen zweieinhalb Jahren hatte er sich oft gefragt, was die Kleinen wohl mit sich anfingen in den zwölf Stunden, in denen die Erwachsenen auf den Feldern oder am See arbeiten mussten. Nun erhielt er einen geringen Eindruck davon:
Manche irrten mit leeren Gesichtern vor den Zelten auf und ab. Andere krochen über die staubige Erde und fingen Käfer, um sie sich in ihre kleinen Münder zu stopfen. Wieder andere hatten sich in Gruppen zusammengeschlossen. Sie schlüpften in die Zelte und Hütten, um nach Essbarem zu suchen. Oder sie hockten dicht aneinandergedrängt und klaubten sich gegenseitig das Ungeziefer von Haut und Haaren. Manchmal spielten sie auch mit Steinen, Stöckchen und leeren Patronenhülsen oder sie jagten die Ratten.
Keines von ihnen war jünger als drei Jahre und keines älter als fünf. Der Maler dachte an seine eigenen Kinder und an seine Frau. Seit dem Tag auf dem Fluss hatte er sie nicht mehr gesehen. Er war damals erst wieder in einem Lastwagen zu sich gekommen, der ihn und andere Gefangene hierher brachte. Anfangs hatte er noch nach seiner Familie gesucht in den Hütten und Zelten der annähernd zweitausend Zwangsarbeiter. Doch vergeblich! Inständig hoffte er, dass sie noch lebte und ihr das grausame Leben in einem solchen Lager erspart geblieben war.
Die Schritte von Stiefeln schreckten ihn auf. Automatisch versuchte er sich kleiner zu machen, was bei den Abmessungen seines Gefängniskastens ein Unding war. Die Schritte kamen näher und hielten vor seinem Verschlag. Lann warf einen verstohlenen Blick nach oben. Es war einer der Wasserträger: ein junger Bursche mit einem vernarbten Gesicht. Keine fünfzehn Jahre alt. Während er seine Eimer abstellte, schaute er ängstlich nach allen Seiten. Schließlich ging er in die Knie und fischte eine mit Wasser gefüllte Colaflasche aus einem der Kübel. »Trink! Schnell!«, flüsterte der Junge.
Der Maler konnte sein Glück kaum fassen, als er den Flaschenhals zwischen den Drahtmaschen sah. Gierig sog er daran.
Der Träger schaute ihn neugierig an.
»Sie bringen dich in den Tempel nach Battambang«, sagte er leise.
Lann Than glaubte sich verhört zu haben. »Was?«, krächzte er heiser. Fassungslos starrte er in die schmalen Augen des Jungen. Jeder hier wusste, dass die Leute, die in den Tempel transportiert wurden, nicht mehr zurück in das Lager kamen. Alle glaubten, der Tempel sei eine Art Zwischenstation vor der Entlassung in die Freiheit. Sollte er wirklich wieder nach Hause dürfen?
»Psst, nicht so laut!«, ermahnte ihn sein Gegenüber. »Wenn ich es dir doch sage: Heute geht ein Transport nach Battambang und du bist dabei! Und mein kleiner Bruder auch. Er heißt Moju. Wenn ihr frei seid, bring ihn nach Sisophon.« Er steckte Lann einen zerknüllten Zettel zu. »Zu dieser Adresse!«
Der Maler nickte eifrig und deutete auf die leere Flasche. »Mehr!«, verlangte er heiser.
Doch bevor der Junge neues Wasser nachfüllen konnte, kam einer der Wachhabenden herbei gerannt. »Was soll das? Wirst du wohl aufhören, das Wasser zu verschwenden!« Eine Lederknute sauste durch die Luft und traf den Wasserträger am Hals. »Der Vietnamese ist schon so gut wie tot. Der braucht kein Wasser mehr! Kapiert?«
***
Im gleich bleibenden Tempo fuhr der Lastwagen über unbefestigte Straßen und staubige Wege. Die Enden seiner Ladeflächeplane hoben und senkten sich im Fahrtwind. Hin und wieder gelang Lann Than ein Blick nach draußen. Bäume und Felder flogen an ihm vorbei. Manchmal durchquerten sie im Schritttempo ein Dorf. Dort bot sich ihm immer wieder das gleiche Bild: Kaum sahen die Bewohner den Lastwagen kommen, packten sie ihre Kinder und flohen in die Hütten und Häuser.
Schließlich fuhren sie nur noch am Ufer des Tonle Sap entlang. Der Maler schloss die Augen und spürte den Wind, der ihm ins Gesicht blies. Der Geruch von frischem Gras stieg ihm
Weitere Kostenlose Bücher