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226 - Das Schädeldorf

226 - Das Schädeldorf

Titel: 226 - Das Schädeldorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia Zorn
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Fauna zu studieren.
    Von Anfang an faszinierten ihn die Menschen: Wie sie sich bewegten, wie sie Emotionen auszudrücken pflegten, die Lautfolge ihrer Stimmen und der Blick ihrer Augen. Unzählige Male hatte er sich gefragt, wie es sich wohl anfühlen würde, in einem menschlichen Körper zu leben. Immer häufiger überfiel ihn die Sehnsucht, ihre Dialekte, ihre Kultur zu erlernen und ihnen die hydritischen Lehren nahe zu bringen.
    Diese Sehnsucht war nicht weiter verwunderlich: Er war ein Quan’rill, ein hydritischer Geistwanderer. Über Jahrhunderte hinweg hatten Quan’rills als Lehrer unter den Lungenatmern gelebt. Allerdings mussten sie sich an die Gesetze halten: Kein denkendes Wesen durfte ohne dessen Einwilligung okkupiert werden. Keine Gewalt! Denn Gewalt war die Wurzel allen Übels! Er selbst hielt sich an diese Gesetze. Auch an jenem denkwürdigen Tag:
    Es herrschte Krieg in Vietnam. Der Süden kämpfte an der Seite fremder Soldaten gegen den Norden. Einer ihrer Stützpunkte lag in der Nähe der hydritischen Forschungsstation beim großen Fluss.
    Ytim’len war auf einem seiner täglichen Kontrollgänge, als er den jungen Mönch entdeckte. Bis heute blieb es ein Geheimnis, was diesen jungen Mann in seinem roten Gewand in das gefährliche Gebiet getrieben hatte. Ytim’len wusste von einem Kloster irgendwo hinter den Mangrovenwäldern. Aber keiner der Bewohner kam je auf die Idee, sich in die Nähe des militärischen Stützpunktes zu wagen.
    Es dauerte nicht lange bis auch die Soldaten den Mönch entdeckten. Bevor sie Fragen stellten, schossen sie. Der Kuttenmann flüchtete eine Böschung hinauf. Als nochmals Schüsse krachten, rutschte er aus und fiel in den Fluss.
    Ytim’len schlich sich beim Wasser durchs Dickicht und wartete ab, ob der Mönch wieder auftauchen würde. Doch vergeblich! Ohne nachzudenken verließ Ytim’len seine Deckung. Während seines Sprungs in den Fluss traf ihn ein Schuss in den Rücken. Er konnte sich noch erinnern, wie die Kugel in seiner Brust brannte. Auch wie die kühlen Wasserfluten ihn umschlossen. Und wie er den Mönch fand und mit ihm davon trieb.
    Als er in einiger Entfernung wieder aus dem Wasser stieg, konnte er nur noch den Tod des jungen Mannes feststellen. Gleichzeitig bemerkte Ytim’len, wie die Kraft seines eigenen Körpers schwand: Er war tödlich getroffen und würde es nicht schaffen, rechtzeitig die rettende Station zu erreichen. Dies ist nicht umsonst, dachte er damals und ließ seinen Geist in den Körper des Verstorbenen wandern. Es gelang ihm, die Hülle des Lungenatmers wieder zu beleben. So wurde aus Ytim’len der Vietnamese Lann Than.
    »Ja, in Lann Than lebt der Geist Ytim’lens!«, flüsterte er heiser. »Ich komme aus Karsi’signak. Mein Volk lebte im Meer, lange bevor die Lungenatmer auf Ork’huz wandelten! Ich bin einhundertunddrei Rotationen alt! Ich werde nach Karsi’signak zurückkehren und noch viele hundert Rotationen erleben! Ja, das werde ich!«
    Er merkte weder, dass er lauter wurde, noch dass er die hydritische Sprache benutzte. Er registrierte nicht die Verwunderung einiger Leidensgenossen über die Schnalz- und Knackgeräusche, die aus seinem Mund sprudelten. Vernahm nicht die Stiefelschritte auf dem Gang und hörte auch nicht, wie die Zellentür aufgerissen wurde. Erst als jemand ihm brutal gegen den Schenkel trat, unterbrach er seine Rede und riss die Augen auf.
    Zwei Uniformierte beugten sich über ihn. »Ob verrückt oder nicht, King Leuk will ihn sich vornehmen!«, hörte er einen von ihnen sagen. Man löste ihn von der Stange und schleppte ihn auf den Gang.
    King Leuk! King Leuk!, trommelte es in Ytim’lens Kopf. Das ist das Ende! Von diesem Menschenteufel kehrte keiner lebend zurück. Wieder rief er sich Karsi’signak ins Gedächtnis und seine schöne Hydritenschwester Sevgil’im. Doch als er vor dem Leiter des Sicherheitsgefängnisses stand, traten die Bilder in seinem Kopf in den Hintergrund und er wurde wieder zu Lann Than, so überrascht war er:
    King Leuk entsprach so gar nicht dem Menschenteufel, den Lann erwartet hatte. Er war unglaublich klein. Einen ganzen Kopf kleiner als er selbst. Seine Haare waren kurz geschoren, und hinter seiner runden Brille fixierten kluge Augen den Maler. Seine vollen Backen und die nach oben geschwungenen Lippen gaben seinem Gesicht fast etwas Freundliches. »Setz dich!«, befahl er mit einem samtigen Klang in der Stimme. Er deutete auf den Stuhl vor einem gewichtigen

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