Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

Titel: 23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
mich dieses Seil nichts an. Ich spornte mein Pferd, und es sprang darüber weg. Nun befand ich mich auf dem freien Platz vor dem Tor des Paradieses. An der sehr, sehr hohen Mauer standen herrliche Palmen, Bäume und Sträucher, welche prächtig zu blühen schienen. Aber da ich keinen Duft bemerkte, schaute ich schärfer hin, und da sah ich denn, daß es keine wirklichen, sondern nur gemalte waren. Nur ein einziger von allen war ein wirklicher Baum, aber ein höchst sonderbarer. Er war sehr niedrig doch unendlich breit. Blüten und Früchte trug er nicht, aber Tausende von eigentümlichen Blättern, welche die Form menschlicher Köpfe hatten, die lebendig zu sein schienen, denn sie bewegten die Augen immerfort, wobei sie mit den nie schweigenden Lippen plapperten. Ich drehte mich um und fragte einen der Dastehenden, was das für eine seltsame Pflanze sei. ‚Das ist der Baum El Dscharanil‘, wurde mir geantwortet. ‚Kennst du ihn nicht? Er wurde hierher gepflanzt, weil der Baum der Erkenntnis, der einst mitten im Paradies stand, abgestorben ist. Seitdem muß man die Blätter des El Dscharanil fragen, wenn man wissen will, ob man das Wohlgefallen Allahs besitzt oder nicht. Denn nur sie allein sind es, denen er alle Geheimnisse seines Ratschlusses anvertraut, sonst niemandem weiter auf der ganzen Erde.‘
    Kaum hatte ich dies erfahren, so wurde ich von einigen der Blätter gesehen. Es erhob sich erst ein unverständliches Flüstern. Dieses wurde immer lauter, je mehr Augen sich auf mich richteten, bis sich endlich alle Lippen bewegten und meinen Namen riefen. Infolge dieses vereinten Geschreis taten sich alle in der Nähe liegenden Türen auf, und über mich ergoß sich eine Menge von Gestalten, von denen ich erdrückt worden wäre, wenn ich nicht hoch auf dem Pferd gesessen hätte. Ich spornte es zu einigen Seitensprüngen an, so daß ich freien Raum gewann, und fragte, was man wolle. Die Antwort erklang in allen Sprachen, die es auf der Erde gibt. Die mich Umringenden waren ja auch in die Trachten aller Völker gekleidet. Jeder von ihnen hatte etwas in der Hand, was er sein ‚heiliges Buch‘ nannte, und jeder von ihnen versicherte, daß er der einzig und allein berechtigte Aussteller der hier vorzuzeigenden Erlaubniskarte sei. Ich aber machte kurzen Prozeß mit ihnen allen und verlangte die Unterschrift dessen zu sehen, von dem man diesen Himmel gepachtet habe. Das hatte noch niemand getan, und darum waren sie von dieser meiner Forderung so verblüfft, daß sie alle wieder in ihren Türen verschwanden. Ich konnte also ungehindert durch das Tor des Paradieses reiten. Doch als ich an dem Baum der Neugierde und Geschwätzigkeit El Dscharanil vorüberkam, riefen alle seine Köpfe in einem und demselben Ton: ‚Er kommt zwar hinein, doch niemals wieder heraus. Wer dieses Himmelreich betritt, der ist verloren. Dafür haben wir gesorgt, wir, die Gottesstimmen!‘“
    Hier machte der Ustad eine Pause. Welch ein Bild er mir da vor die Augen stellte! Fremdartig aber nicht ganz unwahr. Was ich als gerecht denkender Beobachter dagegen zu sagen hatte, das hob ich mir für später auf, weil sein Gedankengang zu interessant war, als daß ich ihn in demselben hätte stören mögen. Er sprach auch sehr bald weiter:
    „Sobald ich das Tor hinter mir hatte, blieb ich, mich umschauend, stehen. Wie groß war mein Erstaunen, als ich nichts, aber auch gar nichts zu entdecken vermochte, was ich hätte himmlisch oder paradiesisch nennen können! Ich befand mich in einer unbeschreiblich kahlen, öden, leblosen Traurigkeit. Man hatte es nicht einmal für der Mühe wert gehalten, die Innenseite der Mauer ebenso zu bemalen wie die äußere. Die Malereien da draußen waren angebracht worden, durch die mit ihnen bezweckte Täuschung die kurzsichtigen und vertrauensseligen Gläubigen anzulocken. Da man aber keinen, der das Chabl el Milal hinter sich hatte, wieder zurückkehren ließ, so hielt man es nicht für nötig diese Beschönigungen dann im Paradiese fortzusetzen. Ich sah weder Baum noch Strauch. Kein Wasser floß. Kein Weg war zu erkennen. Nichts als verwehte Spuren im ausgetrockneten, unfruchtbaren Sand, so lag vor meinen Augen das sogenannte Eden, von welchem die ‚Erleuchteten des Herrn‘ in hundert Zungen der Verzückung sprachen! Es mußte jedem Fuß grauen, einen Vorwärtsschritt in diese wüste Hoffnungslosigkeit zu wagen. Und doch schien man es für ganz selbstverständlich zu halten, daß jeder Angekommene diese ihn ganz

Weitere Kostenlose Bücher