23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
im Gürtel trug. Und nun wartete er.
Ich wußte nicht eigentlich, was er beabsichtigte, obwohl ich die Bedeutung des Chodem kannte. Chodem ist das persische Wort für ‚ich selbst‘. Die dortigen Metaphysiker aber bezeichnen mit diesem Worte etwas noch anderes, ungefähr so eine Art dessen, was wir ‚Doppelgänger‘ nennen, aber in viel höherem, edlerem Sinn. Sie lehren, daß der Mensch zwar auch einen Geist besitzt, den die Seele nach und nach aus den Stoffen des Körpers heraus- und emporzubilden habe, aber dieser rein menschliche Geist sei abhängig und werde geleitet von einem Geist aus höheren Regionen, der Gott mit seinem eigenen Schicksal dafür verantwortlich sei, daß der ihm anvertraute Mensch seine Bestimmung erreicht. Dieser hohe Geist eigne sich sämtliche Aggregatszustände seines Menschen an und sei also imstande, ihm und auch anderen persönlich zu erscheinen, und zwar ganz genau in derselben Gestalt und Kleidung wie der Betreffende selbst. Erscheine er andern, so habe das nichts Schlimmes zu bedeuten; lasse er sich aber vor seinem eigenen Menschen sehen, so sei das ein sicheres Zeichen, daß er ihn für immer verlassen werde, also entweder des nahenden Wahnsinns oder des zu erwartenden Todes. Denn ein Mensch, der von seinem höhern Geist, von seinem Chodem aufgegeben wird, muß entweder sofort sterben oder in geistiger Nacht langsam versiechen.
Das ist die Sage oder die Lehre, auf welche der Ustad sein jetziges Verhalten stützen wollte.
Ahriman Mirza kam herein. Er brannte ein mitgebrachtes Licht an und ging an die Steinplatte, um es dort fest anzutropfen. Als dies geschehen war, zog er zwei zusammengefaltete, große Papierbogen aus der Tasche, schlug sie auseinander und beugte sich zum Licht, um zu lesen. Da schob sich der Ustad leise, zwischen Gebüsch und Wand hinein, schlich unhörbaren Schritts zu ihm hin, bis er hinter ihm stand, und berührte ihn mit der Reitpeitsche. Der Mirza zuckte zusammen, richtete sich schnell auf, drehte sich um und – – – stieß einen Schrei aus, wie ihn nur der größte Schreck oder gar das wirkliche Entsetzen aus der Lunge zu pressen vermag. Dann stand er starr wie Stein, vollständig bewegungslos.
Mir selbst, der ich doch wußte, woran ich war, erschien die Szene beinahe grauenhaft. An der gespenstigen ‚Mauer der Vergeltung‘ – in der ‚Teufelsstube‘, wo der Satan die von ihm geholten Seelen zerreißt – ein kleines Licht, nur zwei, drei Schritte weit schimmernd – ein Menschen- und ein höherer Geist – sich schwarz aus der Schwärze des ringsum herrschenden Dunkels herausgestaltend – nicht nur einander ähnlich, sondern von unbedingt ganz gleicher Wesenheit – der eine ganz genau das Augenbild des andern – vom Kopf bis zu dem Fuß herab ein einziges ‚Ich‘ und doch in zwei Personen! Wenn es mich dabei wie kalt überlief, wie mochte es da erst dem Mirza zumute sein!
Sonderbarerweise, aber psychologisch doch ganz richtig, gab er seinem Entsetzen nach dem ersten Schrei nicht etwa einen Totalausdruck, sondern er richtete es auf Einzelheiten, die ihn sich selbst irr machten.
„Meine Agraffe!“ rief er aus, mit der Hand nach des Ustad Mütze deutend. „Meine Larve – mein Chandschar – meine Peitsche!“ Seine Finger öffneten sich. Die beiden Papierbogen flatterten zur Erde nieder. Ich sah ihn zittern. Seine Knie wankten; sie brachen zusammen. Er sank zu Boden, hielt sich am Stein fest, hob die andere Hand abwehrend empor und schrie:
„Mein Chodem – mein Chodem – mein Chodem! Was hast du mir zu bringen?“
Der Ustad antwortete, und seine Stimme klang genauso dumpf wie diejenige des Mirza unter der Larve hervor:
„Keine Krone und kein Kaiserreich! Wähle: Tod oder Wahnsinn!“
„Den Tod? Nicht ihn, nicht ihn! Ich will nicht sterben, nicht sterben! Ich muß leben, leben – leben!“
„So hast du gewählt. Der Wahnsinn sei der Geist, der dich nun packt wie alle deine Schatten! Hinaus mit dir, hinaus! Such Schutz bei deinen Massaban! Knie vor den heiligen Scheik des Islam nieder! Verlaß dich auf die ganze Macht der Lüge! Er hat die Faust soeben ausgestreckt. Er faßt dich beim Genick wie eine tote Katze. Er schleppt dich hin, bis wo der Abgrund gähnt, und schüttelt dich hoch über – – –“
„Tote Katze, tote Katze!“ unterbrach ihn der Mirza, indem er schaudernd aufbrüllte, als er diese seine eigene Drohung hörte. „Du weißt alles, alles, alles! Aber ich mag deinen Wahnsinn nicht;
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