23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
er:
„Die Liebe hört nimmer auf! Jawohl, die göttliche! Aber diese hier, sie ging für mich zu Ende. Oder hatte sie überhaupt niemals bestanden? Waren diese herrlichen Worte nicht mit dem Herzen, sondern nur mit der Hand gestickt worden? Mit dem kleinen, zarten, schönen Händchen, welches für mich zur Kralle wurde, obgleich ich es so oft, so oft an meine wahrheitstreuen Lippen gedrückt hatte?“
Hierauf trat er zu dem Perlmuttertischchen, zeigte auf das Testament und fuhr fort:
„Gott ist ein Geist! Ich suchte diesen Geist. Ich glaubte, daß er, der alles belebt, auch den Körper der Menschheit beseele. Darum forschte ich in ihr nach ihm. Ich beobachtete sie, wenn sie wachte, wenn sie schlief und wenn sie betete. Im Wachen war sie ihr eigener Gott. Im Schlafen träumte sie nur von sich allein. Und im Beten lag sie vor sich selbst auf allen Knien! Da stand der Geist des Herrn im Morgenland auf und ging als Hirt, der seine Herde suchte, von Land zu Land, von Volk zu Volk, von Herz zu Herz. Überall, wohin er kam, rief man ihm Hosianna zu; dann wurde er verworfen und gekreuzigt. Allüberall, auf jedem Golgatha, sah man den Leib des Herrn an seinem Kreuz hängen. Wo aber blieb der Geist? Der Geist, von dem wir uns in alle Wahrheit leiten lassen sollten? Wo wurde dieser Geist in dieser Wahrheit angebetet? Ich fragte hier auf Erden hin und her. Ich fand wohl manchen Stall und manche Krippe, wo Engel lobgesungen und Hirten, Könige und Weise angebetet hatten. Auch fand ich noch den Duft des Weihrauchs und der Myrrhen, die man dem Geist der Liebe dargebracht; er aber selbst, er hatte sich geflüchtet, dem Haß und seiner Waffe zu entgehen. Wohin? Man sagte: nach Ägypten.“
Nun berührte er das Manuskript mit seiner Hand, zog sie aber schnell wieder zurück, als ob er etwas Häßliches oder gar Feindliches berührt habe, und sprach:
„Hier liegt der Leib des Geistes, mit dem ich nach dem Geiste suchen ging. Er starb und ward begraben. Er hörte auf zu leben, als ich dieses letztgeschriebene Wort vernahm, daß des Menschen Gedanken nicht die Gedanken Gottes seien. Warum sollte ich mit den Gedanken meines Geistes noch fernerhin nach jener Wahrheit suchen, die ich mit ihnen niemals finden kann, weil sie ganz andere als die göttlichen sind!“
Er schaute mich an, als ob er eine Zustimmung von mir erwarte. Ich aber schüttelte leise den Kopf und sagte: „Du hättest mit diesem Wort nicht aufhören, sondern mit ihm beginnen sollen. Es mußte dir sagen, daß nicht mit der Schärfe des Geistes, sondern mit dem vertrauenden Blick des Glaubens zu suchen sei. Wärest du mit seinen offenen Augen so, wie du sagtest, hier auf der Erde hin und her gegangen, so hättest du gewiß nicht leere Krippen gefunden, aus denen der Herr vor Herodes geflohen ist, sondern so manches freundliche Bethanien und so manches liebe Emmahus, wo er vor und nach der Kreuzigung bei den Seinen weilte, um mit ihnen das Brot zu brechen. Meinst du, weil du den Geist des Herrn nicht fandest, können auch andere ihn nicht gefunden haben?“
„Ich fand ihn doch! Öffne diese Leiche, und lies das erste Wort!“
Als ich die vordere Seite des Manuskriptes aufschlug, sah ich die groß geschriebene Überschrift:
‚Der Glaube ist es, der die Welt überwindet!‘
„Nun?“ fragte er. „Habe ich nicht getan, was du sagtest? Bin ich nicht mit dem Glauben suchen gegangen? War er nicht das Alpha dieses Buches? Warum bin ich nicht auf diesem Weg, sondern auf einem anderen zum Omega gekommen?“
„Dein Alphaweg war der Hosiannaweg. Du gingst vom Glauben aus, um den Herrn zu finden. Doch da trat jener Geist zu dir, der den Messias einst versuchte. Dieser siegte; du aber bist unterlegen. Es war nicht Gottes Geist, sondern dein eigener, nach dessen Ruhm du fortan suchen gingst. Du fandest ihn, den gleisnerische, falschen. Man rief dir Hosianna zu, obgleich es nur ein Esel war, auf welchem du durch die schreiende Menge rittest. Er trat mit seinen Hufen die Palmenzweige deines Ruhmes nieder. Sie waren es auch wert! Denn schon begannen Stimmen hinter dir das ‚Kreuzige‘ zu rufen – – –“
„Effendi!“ unterbrach er mich erstaunt. „Du weißt es, was geschah? Wie kannst denn du es wissen?!“
„Nur ich? Das weiß doch jedermann! Wer nach der Wahrheit strebt, hat durch den Jubel sogenannter Freunde hinauf nach Golgatha zu steigen, um von ihnen verlassen, von den Feinden aber gezwungen zu werden, seinen Geist aufzugeben.“
„Seinen –
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