23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
Willst du aber keinem Niederen etwas zu verdanken haben, so stehst du unter ihm, bist niedriger als er! Ich wollte, ich dürfte dir die Berge zeigen, die es für mich gibt, obgleich du sie nicht siehst!“
„Und ich dir auch die meinen!“ fiel ich da schnell ein.
„Wo stehen sie?“ fragte sie ebenso schnell.
„Da oben an der Grenze, in stiller Einsamkeit. Nur selten kommt ein Mensch, um dort emporzusteigen und heimzukehren in das Wunderland.“
„An der Grenze? Heimkehr? Wunderland? Effendi, du siehst, ich bin überrascht! Meinst du etwa dasselbe wie ich? Dieselban Felsenkronen, die mir so oft im Abendrot erglühten? Dieselben Pfade durch die heilige Stille, in welcher jede Blume und jeder Lufthauch betet? Dasselbe Wasserrauschen, von welchem meine Seele trinkt, noch durstiger als die Lippe, die ich kühle? Warst du vielleicht in jenem Tal der Sternenblüten, wo unsichtbar die Seelen wandeln gehen, doch ihrer Füße Spur im grünen Moose lassen? Ich war einst dort mit Marah Durimeh! Wir hörten süßes Flüstern um uns her und leises Wehen wie von himmlischen Gewändern. Ein Veilchen stand am Quell, das einzige im ganzen weiten Tal, soeben erst gepflanzt, die Wurzel zärtlich sorgsam eingebettet und dann befeuchtet, daß sie trinken könne. Da kniete Marah Durimeh sich nieder, schloß es mit ihren lieben Händen ein und sprach: ‚So war er also hier! Ich kenne seine Weise und auch die namenlos Verehrte, die er mit seiner Lieblingsblume grüßt!‘ Ich wagte nicht zu fragen, wen sie meine. Jetzt aber denk ich an die Lagerstätte, die ich mit deinen Lieblingsblumen schmückte, damit ihr Duft die Seele dir erhalte. – Nun sag Effendi, kennst du meine Berge? Warst du schon dort? Bist du die Seele, die mit Veilchen grüßt?“
Da stand ich auf und ging zum nahen Erlenstrauch; dort blühten einige Veilchen. Ich pflückte sie und reichte sie der Fragenden. Auch sie stand auf, steckte die Blumen in das Haar, welches nun wieder in vollen Zöpfen niederhing und sagte:
„Ich kenne seine Weise, sprach Marah Durimeh. Effendi, wenn du ins Tal der Sternenblumen kommst und dort ein zweites Veilchen stehen siehst, begieße es, wie ich das deine tränken werde! Es sei fortan auch meine Lieblingsblume. Und nun sag mir: Warum kamst du hierher an diesen Stein! Zwei Menschen, welche gleiche Pfade gehen, die pflegen gegenseitig sich zu ahnen. Dich zogen die Ruinen her zu mir?“
„Ja, Schakara. Dir will ich offen sagen, daß ich sie durchforschen werde, heimlich, bis in ihren tiefsten Winkel. Niemand soll jetzt davon erfahren außer du.“
„Also treffen wir uns auch hier auf gleichem Weg! Ich war schon oftmals dort, ganz unbemerkt, des Nachts.“
„Warum?“
„Warum? Du weißt ja, was ich suche! Den Berg, die Alabastergrotte, das Meisterstück des Architekten, der Schein auf Schein anstatt der Wahrheit baute. Er kam zuletzt als Flattertier heraus. Was also kann die Grotte nun enthalten? Doch nichts! Leer muß sie sein! Es wurde weder Gott noch Teufel eingemauert. Und doch, und doch bin ich noch nicht am Schluß; ich muß vielmehr noch weiter, weiter denken. Wo Gott von dem Teufel verdrängt wurde, da kann das Resultat doch wohl in keinem Nichts bestehen. Ich bin nur Weib, und du wirst wahrscheinlich über diese meine Mantyk (Logik, Denkschärfe) lächeln; aber es handelt sich hier doch nicht um zwei Körper, welche zusammentreffen und sich wieder trennen können, ohne etwas zurückzulassen, sondern um die Frage, was entstehe, wenn das Gute von dem Bösen verdrängt wird und – – –“
Sie hielt inne. Es ist eben nicht leicht, Göttliches und Teuflisches durch menschliches Denken zu ergründen.
„Schakara, ich bitte dich, laß Mantyk Mantyk sein“, sagte ich. „Du fühlst das Richtige; aber es in Worten auszudrücken, das würde ich nicht wagen. Wenn der Teufel Schein auf Schein getürmt hat, so liegt hinter diesem Schein sicher etwas Wahres verborgen. Was das ist, das können wir nicht wissen. Gelänge es aber, den Berg zu finden und die Grotte zu öffnen, so würde es sich zeigen. Ahnst du vielleicht einen gewissen Zusammenhang zwischen diesem Berg und dem alten Gemäuer hier im Gebiete der Dschamikun?“
„Ich ahne ihn nicht nur, ich fühle ihn ganz deutlich.“
„Hast du dich nicht gefürchtet, des Nachts so allein in den Ruinen herumzusteigen?“
„Vor Menschen, ja, doch sonst vor nichts.“
„Fandest du Spuren, daß Menschen dort verkehren?“
„Ja. Solche Spuren könnten eigentlich nicht
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