Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

Titel: 23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
eignen Hand den Segen zu empfangen. Sie liebten ihn; sie gönnten ihn auch andern; die Eifersucht auf Gott und auf die Seligkeit war ihnen unbekannt. In diesen Menschheitsfrieden trat der andre, den es gelüstete, sein Meisterstück zu machen. Er brachte seine Scharen, die ihm dienen, und ließ den Neid der Hölle rings verbreiten. Als dann der Herr im Morgenrot erschien, um wieder einen Erdentag zu weilen, da drangen alle, alle auf ihn ein, nur hier bei ihnen noch, sonst nirgends zu erscheinen; die andern Menschen seien es nicht wert. Da neigte er das Haupt und ging betrübt von dannen. Er sprach den Segen nicht, sprach überhaupt kein Wort. Der andre aber sprach: ‚Wißt ihr noch nicht, daß Gott sich zwingen läßt? Was ist die Bitte wert, wenn sie nicht zeigt, daß sie auch wirklich will! Beweist ihm euern Ernst, so muß und wird er tun, was ihr begehrt. Ich will euch euern wahren Gott verschaffen; die andre Welt mag andre Götter haben!‘ Nun sandte er den Neid in Scharen aus, herbeizuschleppen, was er vorbereitet. Und als das nächste Morgenrot erschien, nahm er die göttliche Gestalt des Höchsten an und kam, den frommen Schein ins Werk zu setzen. Er ließ sich licht und hehr im Berg nieder und lächelte voll Huld den Menschen zu. Und als sie ihre Bitte wiederholten und ernsten Nachdruck auf die Worte legten, sprach er im Ton väterlicher Güte: ‚Ich prüfte euch; drum war ich gestern still; heut aber sag ich euch, ihr habt bestanden. Die Macht der Frömmigkeit ist größer als die meine. Drum nehmt mich hin als euer Eigentum. Ich will nun euch und niemand sonst gehören!‘ Da flogen die Quader herbei, die Säulen, die Steine, die Ziegel. Der Felsen gab das Fundament; die Mauer klammerte sich fest; sie wuchs empor. Der Teufel saß als Gott im Heiligtum. Doch seine Scharen regten sich, ihn eiligst für das Volk hier einzumauern. Das Bauwerk stieg ihm immer höher, bis an den Leib – – – bis an die Brust – – – bis an den Hals! Und betend lag dabei die Andacht auf den Knien! Der Kopf verschwand nun auch. Fast war der Berg verschlossen. Da schwang ein dunkler Flederhäuter sich aus der letzten Öffnung und flatterte in das Verschwundensein. Und in demselben Augenblick erschien der Architekt vor seinem Werk und lobte laut, daß er zufrieden sei. – – – Was war es für ein Bau? Kein Mensch vermag's zu sagen. Wo liegt der Berg? Ich weiß es nicht, doch möchte ich ihn finden. Und wenn ich mich nicht irre, bist du bereit, mit mir nach ihm zu suchen, Effendi.“
    „Es wäre wohl der Mühe wert, sich hiermit zu beschäftigen“, antwortete ich. „Es steckt in jedem Märchen und in jeder Sage ein Kern, um dessentwillen die Dichtung entstanden ist. Jedenfalls enthält auch diese Erzählung von ‚Chodeh, dem Eingemauerten‘, eine Wahrheit, welche in dieser Form gesagt worden ist, um jedermann zugänglich zu werden. Nur meine ich, daß dieser Gottesberg mit seiner zugemauerten Alabasternische nicht an irgendeinem geographischen Ort, sondern nur auf rein geistigem Gebiete zu suchen sei.“
    „Ich nicht.“
    „Wie?“ fragte ich überrascht. „Du denkst dir einen wirklichen Berg, auf den ich mit diesen meinen Füßen hier steigen könnte?“
    Da flog ein unbeschreiblich schalkhaftes Lächeln über ihr schönes Angesicht, und es klang beinahe wie von oben herab, als sie erwiderte:
    „Effendi, Effendi! Willst du mich etwa glauben machen, daß ein Kurmangdschimädchen klüger sein könne als ein Gelehrter aus dem Abendland? Was meinst du, wenn du von ‚Wirklichkeiten‘ sprichst? Ist nur das wirklich, was ich sehe, höre, fühle? Und muß das, was du als ‚geistiges Gebiet‘ bezeichnest, von unseren Sinnen niemals wahrzunehmen sein? Sind wir Menschen nicht unendlich verschieden begabt? Der eine sieht, hört, riecht, fühlt oder schmeckt etwas, wofür der andere nicht einen einzigen Empfängnisnerven besitzt. Und diesem andern werden dafür viel tiefere und verborgenere Dinge offenbar, welche der vorige für unbegreiflich hält. Ich bin nicht wie du, und du bist nicht wie ich; aber indem wir uns gegenseitig vertrauen und ergänzen, können wir uns zu einer Persönlichkeit vereinigen, welcher zu erreichen möglich ist, was wir alleine nie erreichen würden. Das ist so leicht zu begreifen; aber schau um dich und sag, ob man es beherzigt! Der Sonderstolz, Effendi, der Sonderstolz! Du magst meinen, noch so hoch zu stehen, so hast du herabzusteigen, um zu lernen und dich fördern zu lassen.

Weitere Kostenlose Bücher