Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
Vom Netzwerk:
Kohleberg werke und Stahlhütten, sondern die Banken besetzt – »weil da das Geld« ist, wie der berühmte amerikanische Bankräuber Willie Sutton auf die Frage antwortete, warum er Banken ausraubte. Warum sie es nicht taten? Wegen der deutschen Inflation.
    Im Sommer 1922 war die Inflation in Deutschland aus dem Ruder gelaufen. Die Lebenshaltungskosten stiegen in der zweiten Jahreshälfte um das Sechzehnfache. Die Hyperinflation wurde natürlich von den Reparationszahlungen zumindest mitverursacht. Doch als sie einmal in Gang war, war es für die Franzosen und Belgier eine logische Entscheidung, das Ruhrgebiet zu besetzen, um sich die Kriegsreparationen in Form von Gütern zu sichern, also Kohle und Stahl, statt in Scheinen, deren Wert rapide sank.
    Und die Entscheidung war richtig. Nach der Besetzung des Ruhrgebiets geriet die Inflation in Deutschland völlig außer Kontrolle. Die Preise stiegen bis November 1923, als die neue Währung, die Rentenmark, eingeführt wurde, um das Zehnmilliardenfache (jawohl, Milliarden, nicht Tausend oder Millionen).
    Diese Hyperinflation hat in der Geschichte Deutschlands und der Welt tiefe und nachhaltige Spuren hinterlassen. Bisweilen heißt es, durchaus mit einiger Berechtigung, dass diese Erfahrung den Grundstein für den Aufstieg der Nationalsozialisten legte, da sie die liberalen Institutionen der Weimarer Republik in Misskredit brachte. Dieser Argumentation zufolge war die Hyperinflation der Zwanzigerjahre auch eine der Hauptursachen für den Zweiten Weltkrieg. Das Trauma, das sie in Deutschland auslöste, war so groß, dass die Bundesbank nach dem Zweiten Weltkrieg eine tiefe Aversion gegen eine allzu legere Geldmarktpolitik an den Tag legte. Und nach der Geburt der europäischen Währung und der Auflösung der Nationalbanken in den Staaten der Eurozone sorgten die Deutschen dafür, dass die Europäische Zentralbank EZB auch in Zeiten dauerhaft hoher Arbeitslosigkeit eine strenge Währungspolitik betrieb, bis im Jahr 2008 die Weltfinanzkrise die EZB wie die anderen Zentralbanken rund um den Erdball auch zu einer nie dagewesenen Lockerung ihrer Geldmarktpolitik zwang. Beim Thema Hyperinflation in Deutschland und ihren Folgen sprechen wir somit von einer Schockwelle, die fast ein Jahrhundert anhielt und nicht nur die deutsche, sondern auch die europäische und die globale Geschichte beeinflusste.

Falsche Stabilität

    Seit den Achtziger- und noch stärker seit den Neunzigerjahren steht die Inflationskontrolle in vielen Ländern ganz oben auf der politischen Tagesordnung. Manche Staaten waren gezwungen, ihre Ausgaben zu senken, damit das Haushaltsdefizit nicht die Inflation anheizte. Der Trend ging zudem dahin, dass die Zentralbanken politisch unabhängig wurden, damit sie die Zinssätze, wenn nötig, gegen Widerstand aus der Öffentlichkeit, dem Politiker nicht standgehalten hätten, erhöhen konnten.
    Der Kampf dauerte seine Zeit, doch in den letzten Jahren konnte die Bestie Inflation in den meisten Ländern gezähmt werden. Zahlen des Internationalen Währungsfonds zufolge hatten 97 von 162 Staaten zwischen 1990 und 2008 im Vergleich zu den Siebziger- und Achtzigerjahren eine durchschnittlich fallende Inflationsrate zu verzeichnen. In den reichen Ländern war der Kampf gegen die Inflation besonders erfolgreich, denn dort sank sie durchgängig. In den OECD-Ländern (die überwiegend reich sind, obgleich nicht alle reichen Staaten der OECD angehören) fiel sie im genannten Zeitraum von 7,9 auf 2,6 Prozent. Die Welt ist, insbesondere für die Bewohner reicher Staaten, stabiler geworden – oder?
    In Wahrheit ist die Welt nur stabiler geworden, wenn wir die niedrige Inflationsrate als einzigen Indikator für wirtschaftliche Stabilität ansetzen. Sie ist nicht stabiler geworden, wenn man berücksichtigt, was die meisten von uns erleben.
    In den letzten drei Jahrzehnten, in denen der freie Markt dominiert hat und eine starke Antiinflationspolitik betrieben wurde, ist unserem Empfinden nach die Welt eher instabiler geworden, denn in diesem Zeitraum häuften sich die Finanzkrisen, die auch länger andauerten. Kenneth Rogoff, ehemals Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und heute Har vard-Professor, und Carmen Reinhart, Professorin an der Universität von Maryland, weisen nach, dass zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und Mitte der Siebzigerjahre, als die Welt in Sachen Inflation erheblich instabiler war als heute, praktisch kein Land eine Bankenkrise durchmachte.

Weitere Kostenlose Bücher