23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
einer offenen Ausschreibung eingestellt. Die öffentlichen Finanzen stehen dermaßen auf der Kippe, dass die Staatsschulden auch ausländische Investoren beunruhigen. Trotzdem werden Investoren aus dem Ausland aufs Heftigste diskriminiert. Vor allem auf dem Bankensektor dürfen Ausländer keine Führungsposten besetzen, und ausländische Aktionäre dürfen ihr Stimmrecht nur ausüben, wenn sie einen Wohnsitz im Land haben. Ein Wettbewerbsrecht fehlt völlig, Kartelle und andere Formen des Monopols sind zugelassen und wuchern unkontrolliert. Der Schutz geistigen Eigentums ist löchrig, insbesondere durch die Weigerung, ausländische Urheberrechte zu schützen.
Diese beiden Länder stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten, die als Bremsklötze für wirtschaftliche Entwicklung gelten: starker Protektionismus, Diskriminierung ausländischer Investoren, ein schwacher Schutz von Eigentumsrechten, Monopole, ein Mangel an Demokratie, Korruption, fehlende Leistungsanreize und dergleichen. Man sollte annehmen, dass beide Staaten auf das Chaos zusteuern. Falsch gedacht.
Land A ist das heutige China – vielleicht haben Sie es schon erraten. Doch nur wenige Leser wären wohl darauf gekommen, dass es sich bei Land B um die USA handelt, allerdings im Jahr 1880, als sie noch etwas ärmer waren als das heutige China.
Trotz all der angeblich entwicklungsfeindlichen Maßnahmen und Institutionen war die chinesische Wirtschaft in den letzten drei Jahrzehnten eine der dynamischsten und erfolgreichsten der Welt, während die USA in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts weltweit zu den Staaten mit den höchsten Wachstumsraten zählten und bald zu einem der reichsten Länder der Welt avancierten. Die politischen Rezepte der ökonomischen Superstars des ausgehenden 19. Jahrhunderts (USA) und der heutigen Zeit (China) laufen dem strenggläubigen Neoliberalismus fast diametral entgegen.
Wie kann das sein? Wurde die Doktrin des freien Marktes etwa nicht aus zwei Jahrhunderten erfolgreicher Entwicklungserfahrungen in den etwa 25 reichsten Ländern von heute herausgefiltert? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst einen Blick in die Geschichte werfen.
Tote Präsidenten reden nicht
Manche Amerikaner nennen ihre Dollarscheine »dead presidents« oder »dead prez«. Das trifft nicht ganz den Kern. Natürlich sind sie alle tot, aber nicht alle Politiker, die auf den Scheinen abgebildet sind, waren US-Präsidenten.
Benjamin Franklin, der auf der berühmtesten Banknote der Geschichte abgebildet ist, dem Hundert-Dollar-Schein, war nie Präsident, hätte es aber gut werden können. Franklin war der älteste der Gründerväter und wohl der angesehenste Politiker des neugeborenen Staates. Er war zu alt, und George Washington verfügte über zu großes Format, als dass sich Franklin 1789 um die Präsidentschaft hätte bemühen können, doch er war der Einzige, der fähig gewesen wäre, Washington den Job streitig machen.
Eine echte Überraschung im Pantheon der Dollar-Präsidenten ist Alexander Hamilton, dessen Porträt die Zehn-Dollar-Note ziert. Wie Franklin war Hamilton nie Präsident der USA. Doch anders als Franklin, dessen Lebensgeschichte zur amerikanischen Legende wurde, war er – na ja, ganz anders. Hamilton war lediglich Finanzminister, allerdings der erste. Was hat er zwischen all den Präsidenten verloren?
Obwohl es die wenigsten Amerikaner heute wissen, ist Hamilton der Architekt des modernen amerikanischen Wirtschaftssystems. Zwei Jahre nachdem er 1789 im unerhört jungen Alter von 33 Jahren Finanzminister wurde, verfasste er den »Report on the Subject of Manufactures«, in dem er eine Strategie für die Wirtschaftsentwicklung seines jungen Landes skizziert. Er legte dar, dass eine »junge Industrie« wie die amerikanische Schutz und Unterstützung des Staates brauche, ehe sie auf eigenen Füßen stehen könne. Hamilton befasste sich in seinem Bericht aber nicht nur mit Handelsprotektionismus, sondern er trat auch für öffentliche Investitionen in Abwasserbeseitigung und andere Infrastrukturmaßnahmen ein, für die Entwicklung des Bankensystems und die Schaffung eines Marktes für Staatsanleihen. Der Protektionismus war allerdings das Herz seiner Strategie. Wäre Hamilton heute Finanzminister eines Entwicklungslandes, müsste er sich für seine ketzerischen Ansichten heftige Kritik aus dem US-Finanzministerium anhören. Wahrscheinlich würden der Internationale Währungsfonds und die Weltbank seinem Land jeden
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