23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Unternehmen« apostrophiert. Viele Länder, vor allem Frankreich, Österreich, Finnland, Singapur und Taiwan, stützten Schlüsselbranchen mithilfe staatlicher Unternehmen. In Singapur, sprichwörtlich für seine Freihandelspolitik und seine freundliche Haltung gegenüber ausländischen Investoren bekannt, kommen mehr als zwanzig Prozent der Produktion aus staatlichen Unternehmen – der Durchschnitt liegt international bei zehn Prozent. Die heute reichen Länder taten auch wenig oder gar nichts für den Schutz der geistigen Eigentumsrechte von Ausländern: In vielen Staaten war es früher völlig legal, die Erfindung eines anderen zu patentieren, wenn dieser andere Ausländer war.
Natürlich gibt es auch Ausnahmen. In den Niederlanden vor dem Ersten Weltkrieg, der Schweiz und Hongkong wurde nur wenig Protektionismus betrieben, doch nicht einmal diese Länder folgten der orthodoxen Doktrin von heute. Mit der Begründung, dass Patente künstliche Monopole sind, die gegen das Prinzip des freien Handels verstoßen – eine Argumentation, mit der Marktliberale heute nicht viel anfangen könnten -, weigerten sich die Niederlande und die Schweiz bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Patente zu schützen. Hongkong war, wenn auch aus weniger prinzipiellen Gründen, bis vor Kurzem berühmt-berüchtigt für die andauernden Urheberrechtsverletzungen. Ich wette, Sie kennen jemanden, oder Sie haben zumindest einen Freund, der jemanden kennt, der schon CD-Raubkopien, eine falsche Rolex-Uhr oder ein »inoffizielles« Calvin & Hobbes-T-Shirt aus Hongkong gekauft hat.
Viele von Ihnen hadern vielleicht mit meiner historischen Darstellung. Nachdem man Ihnen immer und immer wieder erzählt hat, dass die Politik des freien Marktes für die wirtschaftliche Entwicklung am besten sei, scheint es unerklärlich, dass die meisten der heute reichen Länder eine angeblich so miserable Politik betrieben haben – sei es in Form von Protektionismus, Subventionen, Regulierung oder Verstaatlichung – und trotzdem reich geworden sind.
Die Antwort lautet, dass diese miserable Politik in Wahrheit eine gute Politik war, wenn man das Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung betrachtet, in dem sich diese Länder damals befanden. Das hat mehrere Ursachen. Da ist zunächst einmal Hamiltons Argument mit der »jungen Industrie«, auf das ich in meinem Buch Bad Samaritans genauer eingehe. Aus demselben Grund, aus dem wir unsere Kinder in die Schule schicken, statt sie mit Erwachsenen auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren zu lassen, sollten Entwicklungsländer ihre Produzenten protegieren und unterstützen, solange sie noch nicht ohne Hilfe auf dem Weltmarkt bestehen können. Zweitens funktionieren die Märkte in den frühen Entwicklungsstadien noch nicht besonders gut, unter anderem, weil das Transportsystem und der Informationsfluss unzureichend sind und auf dem noch kleinen Markt größere Akteure leicht manipulierend eingreifen können. Aus diesem Grund muss der Staat den Markt stärker regulieren und manchmal sogar gezielt Märkte schaffen. Drittens muss in diesem Frühstadium der Staat selbst manche Aufgaben mittels staatseigener Unternehmen erledigen, weil es schlicht nicht genügend privatwirtschaftliche Firmen gibt, die große und riskante Projekte übernehmen können (siehe Nr. 12).
Ungeachtet ihrer eigenen Geschichte zwingen die reichen Länder die Entwicklungsländer dazu, ihre Grenzen zu öffnen und ihre Wirtschaft sämtlichen Kräften des globalen Wettbewerbs auszusetzen. Sie tun dies, indem sie ihre bilaterale Entwicklungshilfe oder Kredite der von ihnen kontrollierten internationalen Finanzinstitutionen wie des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank an Bedingungen knüpfen und indem sie durch ihre intellektuelle Dominanz ideologischen Druck ausüben. Sie treten für eine Politik ein, die sie, als sie selbst noch Entwicklungsländer waren, nie betrieben hätten. Ihre Botschaft an die Entwicklungsländer lautet: »Tu, was ich dir sage, und nicht, was ich getan habe.«
Eine Wachstumsdoktrin, die Wachstum bremst
Mit der historischen Scheinheiligkeit der reichen Länder konfrontiert, erwidert manch ein Verfechter des freien Marktes: »Protektionismus und andere Interventionsmaßnahmen haben im Amerika des 19. Jahrhunderts und im Japan des 20. Jahrhunderts vielleicht funktioniert. Aber immerhin haben die Entwicklungsländer das in den Sand gesetzt, als sie es in den Sechziger- und Siebzigerjahren ausprobiert haben, oder etwa nicht?« Was
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