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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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    Interessant ist jedoch, dass Hamilton mit seiner Haltung nicht allein war. Auch all die anderen »toten Präsidenten« hätten vom US-Finanzministerium, vom Internationalen Währungsfonds, seitens der Weltbank und anderer Marktliberaler erbitterten Widerstand zu befürchten.
    Auf der Ein-Dollar-Note ist der erste Präsident der Vereinigten Staaten porträtiert, George Washington. Bei seiner Amtseinsetzung bestand er darauf, statt qualitativ hochwertigerer britischer Erzeugnisse Kleidung aus Amerika zu tragen, die in Connecticut speziell für diesen Anlass hergestellt worden war. Heute wäre das ein Verstoß gegen die von der Welthandelsorganisation WTO eingebrachte Regelung zur Transparenz im staatlichen Vergaberecht. Und vergessen wir nicht, dass Washington es war, der Hamilton zum Finanzminister machte, im vollen Wissen um seine Ansichten zur Wirtschaftspolitik, denn Hamilton war im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Washingtons Adjutant und danach sein engster politischer Vertrauter gewesen.
    Auf der Fünf-Dollar-Note haben wir Abraham Lincoln, bekannt für seinen Protektionismus, der während des Bürgerkriegs die Zölle auf ein nie dagewesenes Niveau schraubte. 1 Den Fünfzig-Dollar-Schein ziert Ulysses Grant, der Bürgerkriegsheld, der Präsident wurde. Als die Briten die USA drängten, den freien Handel einzuführen, antwortete er trotzig: »In zweihundert Jahren, wenn Amerika alles aus der Protektion herausgeholt hat, was sie zu bieten hat, wird es den freien Handel auch übernehmen.«
    Benjamin Franklin teilte zwar Hamiltons Haltung zur jungen Industrie nicht, sprach sich aber aus einem anderen Grund ebenfalls für hohe Schutzzölle aus. Da es in den USA Landparzellen damals fast zum Nulltarif gab, mussten die amerikanischen Unternehmer im Schnitt etwa viermal so hohe Löhne zahlen wie die europäischen. Die Arbeiter wären ihnen sonst einfach davongelaufen und hätten einen Hof gegründet – und das war keine leere Drohung, denn die meisten Neubürger waren in ihrem früheren Leben Bauern gewesen. Deshalb, so Franklin, konnten die amerikanischen Fabrikanten nur überleben, wenn man sie vor der Niedriglohnkonkurrenz in Europa schützte, die heute unter dem Stichwort »Sozialdumping« laufen würde (siehe Nr. 10). Mit genau dieser Argumentation lehnte der Milliardär und Präsidentschaftskandidat Ross Perot 1992 im Wahlkampf das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA ab – eine Logik, die 18,9 Prozent der amerikanischen Wählerinnen und Wähler bereitwillig teilten.
    Aber, so fragen Sie jetzt vielleicht, bestimmt hätten doch zumindest Thomas Jefferson (auf der seltenen Zwei-Dollar-Note) und Andrew Jackson (Zwanzig-Dollar-Schein), die Schutzheiligen der freien Marktwirtschaft nach amerikanischem Vorbild, vor dem heutigen US-Finanzministerium bestanden?
    Thomas Jefferson hatte zwar etwas gegen Hamiltons Protektionismus, sprach sich aber, anders als Hamilton, der das Patentsystem unterstützte, entschieden gegen Patente aus. Ideen, so Jefferson, seien »wie Luft«, sie könnten deshalb niemandem gehören. Bei den Vertretern der freien Marktwirtschaft, die heute mit Nachdruck den Schutz von Patenten und anderen geistigen Urheberrechten betonen, würde Jefferson wohl mit Pauken und Trompeten durchfallen.
    Und wie steht es dann mit Andrew Jackson, dem Fürsprecher des »gemeinen Mannes« und konservativen Finanzpolitiker, der zum ersten Mal in der US-Geschichte sämtliche Staatsschulden beglich? Seine Anhänger werden es nicht gern hören, aber nicht einmal er würde den Test bestehen. Unter Jefferson betrug der Einfuhrzoll durchschnittlich 35 bis 40 Prozent. Zudem war seine Ausländerfeindlichkeit sprichwörtlich. Als er 1836 der halbstaatlichen (zweiten) Bank of the USA, an der die US-Regierung zu 20 Prozent beteiligt war, die Zulassung entzog, rechtfertigte er diesen Schritt unter anderem damit, dass »zu viel« davon ausländischen, hauptsächlich britischen, Investoren gehöre. Und wie viel war »zu viel«? Gerade einmal 30 Prozent. Wenn ein Präsident eines Entwicklungslandes heute einer Bank die Genehmigung versagte, weil sie zu 30 Prozent US-Amerikanern gehörte, würde dem US-Finanzminister wohl der Kragen platzen.
    Da haben wir’s. Tag für Tag bezahlen viele Millionen Amerikaner das Taxi oder ihr Sandwich mit einem Hamilton oder einem Lincoln, bekommen ein paar Washingtons heraus und merken gar nicht, dass diese hochverehrten Politiker grauenhafte Protektionisten waren, von

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