23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
lassen, die uns weismachen will, dass nur der Privatsektor in der Lage ist, Gewinner zu erkennen und gezielt zu fördern, dann lassen wir eine riesige Bandbreite an Möglichkeiten wirtschaftlicher Entwicklung durch die staatliche Hand oder öffentlich-private Partnerschaften außer Acht.
Dreizehn: Reiche Leute noch reicher zu machen schafft für alle anderen nicht automatisch mehr Wohlstand.
Was sie uns erzählen
Wir müssen Wohlstand erst erwirtschaften, bevor wir ihn verteilen können. Ob es einem gefällt oder nicht, es sind die reichen Leute, die investieren und Arbeitsplätze schaffen. Die Reichen sind überlebenswichtig für unsere Gesellschaft, denn sie erkennen Marktvorteile und nutzen sie auch. In vielen Ländern hat eine populistische Politik des Neides die Schaffung von Wohlstand in der Vergangenheit dadurch behindert, dass den Reichen zu hohe Steuern auferlegt wurden. Das muss aufhören. Es mag zwar hart klingen, aber langfristig können arme Leute nur dadurch zu höherem Wohlstand gelangen, dass die Reichen noch reicher gemacht werden. Wenn man den Reichen ein größeres Stück vom Kuchen gibt, fallen die Stücke der anderen kurzfristig vielleicht etwas kleiner aus, aber auf lange Sicht werden die Armen insgesamt größere Stücke bekommen, weil der gesamte Kuchen größer wird. Ist der gesamtvolkswirtschaftliche Wohlstand dank der unternehmerischen Initiativen und Investitionen der Reichen erst einmal vorhanden, so können wir uns immer noch überlegen, wie wir die Einkommen neu verteilen wollen, wenn wir das dann immer noch für notwendig halten.
Was sie uns verschweigen
Der oben skizzierte Gedanke, bekannt als »Trickle-down-Theorie« [etwa: Theorie des Hinabsickerns], stolpert bereits über die erste Hürde. Eine »wachstumsfördernde, reichenfreundliche Politik« mag zwar mit einer »wachstumshemmenden, armenfreundlichen Politik« unvereinbar sein, doch ist es auch der reichenfreundlichen Politik in den letzten drei Jahrzehnten nicht gelungen, das Wachstum zu steigern. Der erste Schritt in der Argumentationskette – also die Ansicht, dass der Kuchen dadurch größer wird, dass man den Reichen ein größeres Stück davon gibt – ist also bereits nicht haltbar. Der zweite Schritt – dass an der Spitze geschaffener, größerer Wohlstand schließlich bis hinab zu den Armen durchsickert – funktioniert ebenfalls nicht. Zwar sickert bisweilen tatsächlich etwas durch, doch ist der Umfang in der Regel äußerst bescheiden, wenn man alles dem Markt überlässt.
Der Geist Stalins – oder ist es Preobraschenski?
Nach den Verheerungen des Ersten Weltkriegs befand sich die sowjetische Wirtschaft 1919 in einem jämmerlichen Zustand. Als Lenin bewusst wurde, dass das neue Regime keine Überlebenschance hatte, wenn es nicht schnellstens die Nahrungsmittelproduktion ankurbelte, führte er 1921 die »Neue Ökonomische Politik« (NÖP) ein, die einen Handel im Agrarsektor in gewissem Rahmen zuließ und den Bauern den Gewinn aus diesen Transaktionen zugestand.
Die bolschewistische Partei reagierte gespalten. Der linke Flügel, allen voran Leo Trotzki, sah in der NÖP nicht weniger als einen Rückfall in den Kapitalismus. Trotzki wurde von dem brillanten Autodidakten und Ökonomen Jewgeni Preobraschenski unterstützt. Dieser argumentierte, wenn sich die Sowjetunion entwickeln wolle, müsse sie ihre Investitionen in die Industrie erhöhen. Dennoch sei es sehr schwierig, solche Investitionen zu steigern, da praktisch der gesamte volkswirtschaftlich generierte Überschuss (soll heißen: alles oberhalb dessen, was für das Überleben der Bevölkerung absolut notwendig war) in Bauernhand liege, weil der größte Teil der Volkswirtschaft die Landwirtschaft sei. Daher, so folgerte Preobraschenski, sollten Privateigentum und Markt auf dem Lande abgeschafft werden, damit die Regierung durch Druck auf die landwirtschaftlichen Preise möglichst den gesamten Überschuss abschöpfen könne. Dieser Überschuss solle dem industriellen Sektor zufließen, wo die Verwaltung durch feste Pläne sicherstellen könne, dass er vollständig investiert werde. Kurzfristig werde dies den Lebensstandard senken, insbesondere für die Landbevölkerung. Langfristig jedoch könnten alle davon profitieren, weil die Investitionen und somit auch das Wachstumspotenzial der Wirtschaft maximiert würden.
Das rechte Spektrum der Partei, darunter Josef Stalin und Nikolai Bucharin, Preobraschenskis einstiger Freund und intellektueller Rivale,
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