23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Charakterstärke mangelte, die eine solche Abstinenz erforderte. Wenn man den Armen also das Wahlrecht gäbe, würden sie, statt zu investieren, ihren täglichen Konsum steigern, indem sie den Reichen Steuern auferlegten und die so gewonnenen Mittel verschwendeten. Dies würde für die Armen kurzfristig eine Verbesserung ihrer Lebensumstände bedeuten, langfristig jedoch wären sie schlechter beraten, weil so das Investitionsvolumen gesenkt und damit das Wachstum gedrosselt würde.
In ihrer Anti-Armen-Politik wurden die Liberalen von den klassischen Ökonomen unterstützt, allen voran von David Ricardo, einem britischen Ökonomen des 19. Jahrhunderts, der als besonders heller Kopf galt. Im Gegensatz zu den heutigen Wirtschaftsliberalen bestand für die klassischen Ökonomen die kapitalistische Volkswirtschaft nicht aus Individuen. Sie vertraten die These, dass die Menschen verschiedenen Klassen angehörten – Kapitalisten, Arbeiter, Gutsherren – und ihrer Klassenzugehörigkeit entsprechend unterschiedlich handelten. Als bedeutendster Unterschied in den Verhaltensmustern der jeweiligen Klassen galt die Tatsache, dass Kapitalisten (praktisch) ihre gesamten Einkommen investierten, während die anderen Klassen – die Arbeiterklasse und die Gutsbesitzer – diese konsumierten. Die Meinung über die Klasse der Gutsherren war gespalten. Einige, wie Ricardo, betrachteten sie als Konsumklasse, die die Kapitalakkumulation hemmte. Andere hingegen, darunter Thomas Malthus, sahen in diesem Konsum eine Stütze der Kapitalistenklasse, weil er eine zusätzliche Nachfrage für deren Produkte schuf. Was hingegen die Arbeiterklasse betraf, so herrschte Konsens: Sie gaben ihr gesamtes Einkommen aus. Wenn die Arbeiter also einen höheren Anteil am Volkseinkommen erhielten, würde das Investitionsvolumen und damit das Wirtschaftswachstum zurückgehen.
In diesem Punkt waren sich glühende Verfechter eines freien Marktes wie Ricardo und ultralinke Kommunisten wie Preobraschenski einig. Trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze glaubten beide, dass der zur Investition freie Überschuss in den Händen des Investors konzentriert werden sollte, um das Wirtschaftswachstum langfristig zu maximieren – gleich, ob nun Kapitalisten oder Planungsgremien diese Investitionen tätigten. Das ist genau das, was die Menschen heute im Sinn haben, wenn sie sagen: »Man muss den Wohlstand erst schaffen, bevor man ihn verteilen kann.«
Das Versagen der reichenfreundlichen Politik
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bewahrheiteten sich die schlimmsten Befürchtungen der Liberalen: Die meisten Länder Europas sowie deren »westliche Ableger« (USA, Kanada, Australien und Neuseeland) dehnten das Wahlrecht auf die Armen aus (natürlich nur auf die Männer). Die gefürchtete Überbesteuerung der Reichen und das daraus resultierende Ende des Kapitalismus traten jedoch nicht ein. In den Jahrzehnten, die auf die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer folgten, erhöhten sich weder die Besteuerung der Reichen noch die Sozialausgaben in nennenswertem Umfang. Die Armen waren also offensichtlich doch nicht so ungeduldig.
Darüber hinaus läutete die gefürchtete Mehrbesteuerung der Reichen selbst dann nicht das Ende des Kapitalismus ein, als sie tatsächlich eingeführt wurde. Vielmehr stärkte sie das System noch zusätzlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg war in den meisten reichen kapitalistischen Ländern eine rapide Zunahme der Steuerprogression und der Sozialausgaben zu beobachten. Trotzdem (oder vielmehr deshalb, siehe Nr. 21) gab es in den Jahren zwischen 1950 und 1973 die höchsten Wachstumsraten aller Zeiten, sodass diese Phase schließlich als »Goldenes Zeitalter des Kapitalismus« in die Geschichte einging. Vor dem Goldenen Zeitalter wuchs das Pro-Kopf-Einkommen in den reichen kapitalistischen Volkswirtschaften etwa um 1 bis 1,5 Prozent jährlich. Während des Goldenen Zeitalters betrug die Wachstumsrate in den USA und Großbritannien 2 bis 3 Prozent, in Westeuropa 4,5 und in Japan sogar 8 Prozent. Seither ist es keinem dieser Länder jemals gelungen, höhere Wachstumsraten zu erzielen.
Als sich von Mitte der Siebziger an das Wirtschaftswachstum in den reichen kapitalistischen Volkswirtschaften wieder verlangsamte, entstaubten die Vertreter der freien Marktwirtschaft ihre Rhetorik aus dem 19. Jahrhundert. Es gelang ihnen, andere davon zu überzeugen, dass die Ursache für diese Verlangsamung im Rückgang des Anteils zu suchen sei,
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