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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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gemahnte zum Realismus. Sie argumentierten, dass man es sich angesichts der Bedeutung des Bauernstands gar nicht leisten könne, diesen zu enteignen, selbst wenn es nicht sonderlich »kommunistisch« sei, Privateigentum an Land und Vieh zu gestatten. Bucharin zufolge hatte man keine andere Wahl, als »dem Sozialismus auf einem Bauerngaul entgegenzureiten«. Im weiteren Verlauf der Zwanzigerjahre hatten die Rechten meist die Oberhand. Preobraschenski wurde zunehmend an den Rand gedrängt und war 1927 schließlich gezwungen, ins Exil zu gehen.
    Im Jahr 1928 indes änderte sich alles. Als Stalin zum Alleinherrscher wurde, bediente er sich vieler Ideen seiner Rivalen und verleibte sich auch die von Preobraschenski befürwortete Strategie ein. Er konfiszierte Land von den Kulaken, den Mittel- und Großbauern, und brachte sämtliche ländlichen Gebiete durch eine Kollektivierung der Landwirtschaft unter staatliche Kontrolle. Das den Kulaken enteignete Land wurde in Staatsgüter (Sowchosen) umgewandelt. Die Kleinbauern zwang man, sich in Kooperativen oder Kollektiven (Kolchosen) mit einem nominalen Anteil an den Produktionsmitteln zusammenzuschließen.
    Stalin befolgte Preobraschenskis Empfehlung nicht Punkt für Punkt. Tatsächlich verfuhr er mit der Landbevölkerung sogar vergleichsweise milde und presste die Bauern nicht bis zum letzten Tropfen aus. Stattdessen senkte er die Löhne der Industriearbeiter so weit, dass sie nicht mehr zur Existenzsicherung ausreichten. Dadurch wiederum waren die Frauen in der Stadt gezwungen, sich dem Heer der Arbeiter anzuschließen, damit ihre Familien überleben konnten.
    Die Kosten von Stalins Strategie waren gewaltig. Millionen Menschen widersetzten sich oder wurden des Widerstands beschuldigt, und für viele endete die landwirtschaftliche Zwangskollektivierung im Arbeitslager. Die landwirtschaftliche Produktion brach zusammen, was vor allem an einem dramatischen Rückgang der Zugtierbestände lag. Diese waren entweder in Erwartung einer Enteignung von ihren Besitzern geschlachtet worden oder aufgrund einer Futtermittelknappheit verhungert, die Folge erzwungener Getreidelieferungen in die Städte. Dieser landwirtschaftliche Einbruch mündete in der Hungersnot von 1932 bis 1934, der Millionen Menschen zum Opfer fielen.
    Die Ironie der Geschichte ist, dass, hätte Stalin Preobraschenskis Strategie nicht übernommen, die Sowjetunion nicht in der Lage gewesen wäre, in kürzester Zeit eine Industrie aus dem Boden zu stampfen. Nur dank dieser aber konnte sie der Invasion der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg die Stirn bieten. Ohne Hitlers Niederlage an der Ostfront wiederum wäre es Westeuropa nicht gelungen, die Nazis zu besiegen. Somit verdanken die Westeuropäer ihre heutige Freiheit einem ultralinken sowjetischen Ökonomen namens Preobraschenski.
    Warum beschäftigt mich dieser längst vergessene russische Marxist, der vor fast hundert Jahren lebte? Der Grund ist, dass es eine auffällige Parallele zwischen Stalins (oder vielmehr Preobraschenskis) Strategie und der reichenfreundlichen Politik unserer Tage gibt, wie sie von den Vertretern der freien Marktwirtschaft gefordert wird.

Kapitalisten gegen Arbeiter

    Vom 18. Jahrhundert an geriet die alte feudale Ordnung in ganz Europa zunehmend unter liberalen Beschuss. Die Menschen wurden seinerzeit noch in einen bestimmten »Stand« hineingeboren, den sie zeitlebens nicht verlassen konnten. Die Liberalen hingegen forderten, die Menschen sollten für ihre Leistungen entlohnt und nicht allein aufgrund ihrer Geburt bevorzugt werden (siehe Nr. 20).
    Freilich handelte es sich um Liberale des 19. Jahrhunderts, die Ansichten vertraten, welche heutige Liberale (am allerwenigsten die amerikanischen Liberalen, die man in Europa damals eher als »links von der Mitte« bezeichnet hätte) als höchst verwerflich empfänden. Unter anderem waren sie gegen die Demokratie. Sie glaubten, dass das Wahlrecht für arme Männer – an Frauen dachte man erst gar nicht, da man ihnen nicht die gleichen geistigen Fähigkeiten zugestand – den Kapitalismus zerstören würde. Warum glaubte man das?
    Die Liberalen des 19. Jahrhunderts dachten, dass Enthaltsamkeit der Schlüssel zur Anhäufung von Wohlstand und somit zum Wirtschaftswachstum sei. Wollte man Wohlstand schaffen, so dürften die Menschen die Früchte ihrer Arbeit nicht genießen, sondern müssten sie wieder investieren. In diesem Weltbild waren die Armen deshalb arm, weil es ihnen an der

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