230 - Gilam'esh'gad
war.
Der Wächter wandte sich vom Klonlabor ab und tauchte ein Stockwerk höher, zur Medizinischen Station. Vor dem Eingang verhielt er und lauschte.
Nichts zu hören. Niemand sprach. Also hatte das Wesen Clarice Wort gehalten und war nach dem Seebeben ins Zentrum geschwommen, um sich vom Wohlbefinden ihrer Gefährten zu überzeugen.
Jetzt oder nie! Der Alte glitt in die Schleuse und zwängte sich widerwillig durch das kalte, quallenähnliche Material. Gleich dahinter lag der Eingangsbereich: Notaufnahme, Empfang, Medikamentenraum. Alles war aufgeräumt und frisch gereinigt, sah aus wie immer. Nur das Wasser fehlte.
Der Alte spürte einen Stich in der Brust, als er die leer gepumpte Station betrat. Wie oft war er hier ein und aus geschwommen in den letzten Tagen von Gilam’esh’gad! Wie viel Leid hatte er hier gesehen!
Der Medikamentenraum war mit Wandmuscheln bewachsen, in denen glasartige Behälter lagerten. Der Alte war kein Heiler, doch er hatte sich im Laufe der Zeit einige Kenntnisse angeeignet. Genug, um unterscheiden zu können, welche Flüssigkeit kurativ… und welche giftig war. Er zögerte kurz. Dann ergriff er ein dünnes Röhrchen und wanderte los.
Die Station verfügte über ein eigenes Aggregat, sodass ihre Energieversorgung auch in Krisenzeiten gewährleistet war. Sanftes Licht erhellte den Mittelflur und die Gesundungsbehälter, wie die hydritischen Krankenbetten genannt wurden. Sie hatten wenig Ähnlichkeit mit denen der Menschen. Es gab weder Kissen noch Decken; auch kein Bettgestell mit aufgelegter Matratze. Der Kranke sank stattdessen in etwas hinein, das wie ein längs halbierter Hummerschwanz aussah. Man konnte es verbiegen und dem Körper des Patienten genau anpassen. Die hohen Schalenseiten verhinderten, dass er ungewollt davon trieb.
Bis auf einen waren die Gesundungsbehälter leer und ordentlich aufgerollt. Der Wächter ging an ihnen entlang, trat an Yanns Krankenbett, blieb stehen. Neugierig betrachtete er den fremden Menschenmann, in dessen Geist der große Gilam’esh auf seine Freiheit wartete. Wie ahnungslos er da lag! Schlafend, ganz offensichtlich krank!
Erinnerungen holten den Alten ein. In Bildern von unwirklicher Klarheit sah er die leidenden Gilam’esh’gad-Hydriten, wie sie zu ihm aufblickten, als ob er sie retten könnte. Wie der letzte Hoffnungsschimmer in ihren Augen erlosch und an seine Stelle die Resignation der Todgeweihten trat.
Und wenn ich doch nur die Klonkörper zerstöre? Unschlüssig wog der Alte das Röhrchen in der Hand, blickte wieder auf Yann. Sicher, das war nur ein Mensch und kein Hydrit. Trotzdem war sein Leben schützenswert.
Eigentlich.
Der Alte nahm das Glasröhrchen und brach die Spitze ab.
»Es tut mir leid!«, flüsterte er.
Dann beugte er sich vor.
***
Eine Stunde später
Clarice hatte sich vom Wohlergehen ihrer Gefährten überzeugen können und war auf dem Weg zurück ins Wissenschaftszentrum. Quart’ol und Aruula hatten mit der Marsianerin zu Abend gegessen. Jetzt saßen die beiden wieder auf dem Fußboden ihres Hauses und untersuchten die Datenkristalle aus dem Geheimarchiv.
Der Fund war sensationell, wie Quart’ol beim Abspielen der glitzernden Datenträger immer wieder betonte. Offenbar hatte man alles – aber auch wirklich alles! –, was den Hof Pozai’don des Zweiten betraf, für die Nachwelt notiert. Da gab es Listen über den Energieverbrauch. Listen von Speisen, die der Herrscher bevorzugte. Namenslisten von Palastangestellten und Aushilfskräften. Besucherlisten. Handwerkerlisten.
»Ich kann’s nicht mehr hören!«, fauchte Aruula plötzlich in Quart’ols andächtige Lesung hinein. »Wenn du noch ein Mal das Wort Liste erwähnst, nehme ich diese blöden Kristalle und werfe sie allesamt aus dem Fenster!«
»Ja, aber… das sind ungeheuer aufschlussreiche und wichtige Informationen«, stammelte Quart’ol verwirrt. »Danach haben wir doch gesucht!«
»Haben wir nicht.« Aruula schüttelte den Kopf. »Wir wollten… oder vielmehr: Ich wollte etwas über den Wächter erfahren. Nicht über Pozai’don, nicht über dessen Mahlzeiten. Bei Wudan! Hatte der nichts Besseres zu tun, als jede Blubberblase aufzuschreiben?«
Quart’ol lachte. »Das war nicht Pozai’don! Dafür gab es Chronisten am Hof. Extra ausgebildete Schreiber, die alles dokumentierten.«
»Alles?«
»Alles.«
»Wie schön«, sagte Aruula säuerlich. »Dann muss ja auch irgendwo etwas über den Wächter stehen.«
»Hmm-m«, machte Quart’ol und
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