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230 - Gilam'esh'gad

230 - Gilam'esh'gad

Titel: 230 - Gilam'esh'gad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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sicher: Wer hier freiwillig wohnte, musste seltsame Vorlieben haben!
    Gäste freundlich zu empfangen, gehörte offensichtlich nicht zu diesen Vorlieben. Das wurde Matthew Drax klar, als sich im nächsten Moment von allen Seiten Angreifer auf ihn stürzten…
    ***
    Es war Nacht in Gilam’esh’gad. Der Gezeitenstrom wogte durch die stillen Alleen, an mächtigen Bauwerken entlang und über den Platz der nach Osten gerichteten Muscheln. Ihre Spitzen wiesen auf einen spindelförmigen Tempel, sechzig Meter hoch, mit zwei Portalen. Über dem einen stand: Kammer der Macht. Das andere öffnete sich soeben.
    Lautlos, unbemerkt verließ der Wächter die Kammer des Wissens. Er schwamm ein Stück über den Platz, dann tauchte er in eine Seitenstraße. Die Häuser dort standen quer zur Strömung, bildeten eine Barriere. Wenn man in Bodennähe blieb, unterhalb der Flut, kam man ohne großen Kraftaufwand voran.
    Der Wächter trennte sich nur ungern von seinem Tempel, denn es waren Fremde in der Stadt, und Fremden misstraute er prinzipiell. Doch er musste etwas erledigen. Etwas, das er auf mentale Weise nicht ausführen konnte.
    Ich werde meine Hände dazu brauchen. Meine hässlichen Hände, dachte er nicht ohne Bitternis. Der Alte erinnerte sich noch, oder glaubte das zumindest, wie ansehnlich er einmal gewesen war. Heute besaß er kaum noch Ähnlichkeit mit einem Hydriten, und sein eigener Schatten erschreckte ihn: Was da im Schein biolumineszenter Lichtquellen über den Boden glitt, sah aus wie ein schwarzer Todesengel. Verkrüppelt von innen und außen.
    Die Krankheit war daran schuld. Diese Pest, die Gilam’esh’gad so furchtbar heimgesucht und auch den Wächter nicht verschont hatte. Er hatte all ihre Schrecken durchlitten. Wie oft hatte er den Tod herbeigesehnt in fieberheißen Nächten, wenn die Schmerzen zu groß wurden und sein lautes Weinen ihm das letzte bisschen Würde nahm! Freunde, Brüder, Schwestern… das ganze Volk siechte dahin. Ein Hydrit nach dem anderen verstummte, wurde fahl und kalt, trieb mit dem Gezeitenstrom davon. Niemand hatte mehr die Kraft, sich um die Toten zu kümmern.
    Er selbst überlebte wider Erwarten, und er sah darin ein Zeichen der Götter: Vielleicht wollten sie, dass er Buße tat für den Untergang der Stadt. Aber vielleicht wollte er das auch selber.
    Er fühlte sich schuldig, weil er weiter existierte, als alle anderen starben. Weil er weiter funktionierte, als Gilam’esh’gad verfiel. Und weil er weder die Klugheit, noch das Misstrauen besessen hatte, um die richtige Entscheidung zu treffen – damals, als die beiden Mar’os-Krieger am Stadttor erschienen.
    Ich hätte sie verjagen müssen! Noch draußen vor der Stadt!, dachte er und wusste doch, dass ihm das gar nicht möglich gewesen war. Wieder und wieder hatte er die Szene durchgespielt, aus allen erdenklichen Perspektiven. Das Ergebnis blieb immer gleich: Er hätte es nicht wissen können. Niemand hätte wissen können, dass sich die Mar’os-Krieger vorsätzlich mit einer tödlichen Seuche infiziert hatten. Selbstmord-Attentate waren bei den Hydriten unbekannt. Wenigstens bis zu jenem Tag.
    Mein armes Gilam’esh’gad, dachte er, und sein altes Herz wurde schwer vor Kummer, als er durch die Straßen glitt, um die Schäden des Seebebens in Augenschein zu nehmen. Es war gar nicht viel passiert, aber in einer Metropole, die ohnehin nur noch aus Ruinen bestand, zählte jede Mauer. Jeder Stein.
    Erst recht das Stadtarchiv.
    Es ist gut, dass die beiden sich retten konnten! Der Wächter blickte an einem Haus im Schlotweg hoch. Die bionetischen Fensterscheiben hatten auf das abends nachlassende Glühen der Leuchtmikroben am Felsendach reagiert und sich milchig verfärbt. Schemenhaft sah man am hellen Fenster einen Hydriten und eine Menschenfrau. Sie unterhielten sich. Ich hoffe nur, dass sie das Geheimarchiv nicht gefunden haben!
    Es gab wenig in der Stadt, das ihrem Wächter entging. Jedes Knarren der Langusten, jedes Sprudeln thermaler Quellen und jeder fallende Stein löste Schallwellen aus, die sich durchs Wasser fortpflanzten. Sie aufzufangen und zu deuten war kein Problem, wenn man im Besitz der weißen Riesenmuschel war.
    Der Wächter wohnte in ihr.
    Das gigantische Gehäuse war ein Relikt aus alter Zeit, nicht ganz von allein gewachsen und mit einigen Extras ausgestattet. Es stand auf einem beweglichen, im Boden eingelassenen Sockel, über den es sich nach allen Seiten drehen ließ. Wie ein Radar. Bionetische Geräte an der

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