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230 - Gilam'esh'gad

230 - Gilam'esh'gad

Titel: 230 - Gilam'esh'gad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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Muschelwand transponierten die ankommenden Schallwellen in Laute. Man brauchte nur zuzuhören und war informiert. So hatte der Alte einiges darüber erfahren, wer sich zurzeit in Gilam’esh’gad aufhielt und warum.
    Als er jetzt in die Rote Allee einbog, erinnerte er sich an seine Begegnung mit dem Menschenmann Matt Drax, und an dessen Behauptung, Gilam’esh sei in der Stadt. Natürlich hatte er dem Fremden kein Wort geglaubt; war sogar wütend geworden, weil er sich frech belogen fühlte. Aber dann war er kurz in den Geist des Menschenmanns eingetaucht – und auf eine wahre Bilderflut gestoßen!
    Die Erinnerungen zeigten Gilam’esh: im Zeitstrahl, im Gespräch mit Matt Drax, in Gestalt von Yann Haggard, in den er geschlüpft war… Der Wächter hatte sich hastig zurückgezogen, getrieben von der irrationalen Vorstellung, man könnte ihn entdecken. Wie hatte er sich erschrocken! Noch heute war er völlig verstört, rang mit einem Gefühl aufkommender Panik.
    Gilam’esh. Der große, anbetungswürdige Friedensbringer. Namenspatron der Stadt, Held zahlloser Schriften und Legenden. Was würde er sagen, wenn er erst wieder einen eigenen Körper besaß und sich frei bewegen konnte? Was würde er tun, wenn er all das Elend sah, das über Gilam’esh’gad hereingebrochen war?
    Er wird mich davonjagen!, dachte der Wächter. Denn ich habe versagt! Ich sollte über sie wachen, über meine geliebte Stadt – mein Gilam’esh’gad! Stattdessen habe ich ihre Tore dem Tod geöffnet!
    Der Alte war verzweifelt. Zehntausend Jahre hatte er Buße getan, und jetzt das! Natürlich wusste er am Anfang nicht, welche Ewigkeit vor ihm lag. Er hatte vielmehr darauf gehofft, dass sich der letzte verborgene Lebensfunke von Gilam’esh’gad schon bald neu entzünden würde. Doch das war nie geschehen.
    Vielleicht schaffte es der Menschenmann. Er war mutig, und da war etwas Selbstloses in seinem Auftreten. Ja, er könnte der Richtige sein, wenn es darum ging, die Seele von Gilam’esh’gad aus dem Dunkel zu holen.
    Der Wächter verließ die Rote Allee und schwamm auf das Wissenschaftszentrum zu. Ein paar Fensterreihen leuchteten hell durch die Nacht, dort wollte er hin. Das letzte Mal war er vor fünfzig Jahren hier gewesen, um aus seinem damaligen verbrauchten Körper in einen Klon zu wechseln. Er hatte ihn aus eigenem Gewebe gezüchtet, etwas anderes stand ja nicht zur Verfügung. Das Seuchenvirus darin war längst abgestorben, doch es hatte die DNS so nachhaltig geschädigt, dass der neue Körper genauso verunstaltet war wie der alte.
    Lautlos tauchte der Wächter durch das Portal der Medizinischen Fakultät. Die unteren Etagen waren geflutet, und er kam schnell voran. Er hatte lange darüber nachgedacht, wie er Gilam’esh aufhalten könnte. Mehr wollte er nicht, nur ihn aufhalten. Zeit gewinnen. Hoffend, dass Matt Drax seine Aufgabe erfüllen würde. Dann könnte er dem Friedensbringer eine neu erwachende Stadt präsentieren und zu Recht behaupten, dass er – der Wächter – ihre Rettung initiiert hatte.
    Vor den Klonlabors schimmerte eine bionetische Schleuse. Der Alte zögerte einen Moment, schwebte reglos im Wasser. Er wusste, dass dieses eigenartige weibliche Wesen Clarice, das kein Mensch und kein Hydrit war, im Labor an einem Klonkörper für Gilam’esh arbeitete. An mehreren sogar! Einer davon wuchs mit ungewöhnlicher Schnelligkeit heran.
    Vielleicht würde es genügen, die Klone zu zerstören, überlegte der Wächter, verwarf den Gedanken aber wieder. Nein, Gilam’esh sollte nicht einfach im Körper des Menschenmanns Yann gefangen bleiben! Er sollte sich mit den dreizehn Geistwesen vereinen, die in der weißen Riesenmuschel darauf warteten, in den Kreis des Lebens zurückzukehren. Der Alte hatte sie unter größten Mühen gerettet; damals, als die Stadt im Sterben lag.
    Das werden sie dem Friedensbringer erzählen! Und auch, dass ich sie bewacht und umsorgt habe! Zehntausend Jahre lang! Ihr vereintes Wissen stellt die Chronik unseres Volkes dar, und ohne mich wäre sie verloren gegangen. Der Wächter nickte schwach. Wenn er all das weiß, wird mir Gilam’esh erlauben, auf meinen Platz zurückzukehren! Nach Gilam’esh’gad. In meine geliebte Stadt!
    Er liebte sie wirklich, die uralte Metropole. Er kannte jedes Haus, jede Straße, jeden Stein wie das Innere seines Brustpanzers, den er noch immer besaß, obwohl er ihn schon lange nicht mehr tragen konnte, weil die Rüstung für einen stattlichen Hydriten gefertigt

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