230 - Gilam'esh'gad
meine geliebte Stadt seit Rotationen heimsucht und alles Leben in ihr zerstört. Selbst die Fische sind infiziert, diese seltenen und kostbaren Wesen, die wir aus allen Ozeanen herbeigeschafft und hier angesiedelt haben, um den Glanz unserer Stadt noch zu mehren.
Wohin sich mein unglückliches Auge auch wendet, herrscht Leid. Unvorstellbar in seinem Ausmaß. Unerträglich in seinem Anblick. Die Kinder sind schon alle gestorben. Die Älteren kämpfen noch ums Überleben – aber zu welchem Preis? Ihre Köpfe schwellen an; die Haut, von schwärenden Wunden bedeckt, wird schwarz. Ihre Wirbelsäule verwächst ins Groteske. Ich bin umgeben von entsetzlich verkrüppelten Hydriten, doch nicht einer von ihnen wählt den Freitod, obwohl es so verständlich wäre. Nur ich möchte sterben, und ausgerechnet ich darf es nicht. Denn ich bin der Wächter meines Volkes…«
»Wächter?« Aruula horchte auf. »Hast du gerade Wächter gesagt?«
»Ja, habe ich.« Quart’ol nickte ruhig. »Aber es ist Pozai’don, der hier spricht, nicht irgendein Tempelhüter. Dass er die Bezeichnung Wächter verwendet, unterstreicht nur, wie ernst er seine Aufgabe als Herrscher nimmt. Mehr nicht.«
»Lies weiter«, sagte Aruula enttäuscht.
Quart’ol wiederholte den angefangenen Satz, ehe er fortfuhr. »Denn ich bin der Wächter meines Volkes und muss ihm Trost spenden in der Stunde der Not.
Welche Bürde lastet auf meinen Schultern, auf meinem Herzen! Alle sehen zu mir auf, als ob ich ihnen helfen könnte. Dabei war ich es, der das Unheil über sie gebracht hat! Ich allein! Als die Nachricht im Palast eintraf, zwei geläuterte Mar’os-Anhänger stünden vor dem Tor der Stadt, habe ich nicht gezögert, sie hereinzulassen. Es war meine Eitelkeit, die mich dazu verführte. Denn es weilten Besucher in Gilam’esh’gad – dreizehn hochrangige Quan’rill aus verschiedenen Epochen. Bei Ei’don! Ihr Wissen umspannt die gesamte Geschichte meines Volkes, und sie waren gekommen, um uns daran teilhaben zu lassen.
Ich wollte sie beeindrucken. Wollte ihnen, die sie den Frieden als höchstes Gut anpriesen, den Beweis erbringen, dass der Molekularbeschleuniger meines Vorgängers etwas erreicht hatte, das Verhandlungen nie geschafft hätten: die Läuterung der Mar’os-Anhänger. Es wäre dem späteren Einsatz meiner eigenen Waffe, des Flächenräumers, so zuträglich gewesen!
Ahnte ich, dass mit den Mar’os-Anhängern etwas nicht stimmte? Nein. Nein und abermals nein. Selbst meine Heiler erkannten anfangs nicht, dass die Seuche von ihnen ausging. Sie haben die beiden sogar noch gepflegt!
Nun sind sie tot, die Mar’os-Anhänger und die Heiler. Mein Volk wird ihnen folgen, jeder einzelne Hydrit. Ich werde hier bleiben und ihre fieberheißen Hände halten. Mich zwingen, in ihre brechenden Augen zu sehen. Denn es ist meine Schuld, dass Gilam’esh’gad stirbt, meine allein.
Ich habe Vorbereitungen getroffen, um die dreizehn Quan’rill zu retten, oder es wenigstens zu versuchen. Im Zentrum gibt es einen alten Tempel, der seit den Tagen Pozai’dons des Ersten nicht mehr genutzt wird…«
Quart’ols Kopf flog hoch. Der Hydrit und Aruula starrten sich an, als hätten beide ein Gespenst gesehen.
»Lies!«, wisperte die Barbarin atemlos.
Quart’ol wandte sich dem glitzernden, dreidimensionalen Bild zu. Es bestand aus lauter kleinen Schriftzeichen, und sie schienen plötzlich zu tanzen. Doch es war nur Quart’ol, der am ganzen Leibe zitterte. Mühsam riss er sich zusammen und las vor: »… nicht mehr genutzt wird. Darin befindet sich die Weiße Muschel, die meine Ingenieure gezüchtet haben. Wir nennen sie Das Ohr der Stadt, weil sie über Echolot, Ultraschall, Infrarot und andere biotechnische Geräte verfügt. Ich habe angeordnet, die Gehäusewindungen mit Nährstoffmasse zu füllen und einen Symbionten einzusetzen, der ihre Selbsterneuerung unterstützt. Wenn die Zeit gekommen ist, werden die dreizehn Quan’rill ihre Körper verlassen und in die Weiße Muschel ziehen. Ich habe ihnen mein Ehrenwort gegeben, sie zu schützen und zu bewachen, bis die Seele von Gilam’esh’gad zurückkehrt und meine Stadt – meine geliebte Stadt – wieder zum Leben erwacht.
So spricht Pozai’don der Zweite, Herrscher über Gilam’esh’gad. Mögen die Götter mir verzeihen. Denn ich selbst kann es nicht.«
Als Quart’ol verstummte, wurde es totenstill im Raum. Das Lesegerät hatte das Ende der Aufzeichnungen erreicht. Es schaltete sich ab, und die kleinen
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