2308 - Die Schattenlosen
Aufladung ihm größere Probleme machte, als er nach außen hin zeigte.
Auch wenn er es so gut wie möglich abzublocken versuchte, hatte er das Gefühl, selbst in einer Zentrifuge aus Kräften zu stecken, die eine Welt zermalmen konnten.
Etwa hundert Meter vor den Obelisken blieb er stehen – was in etwa ihrer Höhe entsprach. Er zwang sich, ruhig zu atmen, obwohl der Aufruhr in seinem Innern immer größer wurde, mit jedem Schritt, den er näher gekommen war. Die neun schwarzen Säulen strahlten eine solche Macht aus, dass ihm schwindlig wurde. Sie wuchsen in den chaotischen Himmel und schienen durch unsichtbare Felder und Linien mit dem Vortex verbunden zu sein, so als zapfte dieser an ihnen – oder umgekehrt sie an ihm. Wenn der Anblick allein schon unheimlich war – wie sollte man dann das beschreiben, was nur er spüren konnte? Wie gering und klein er sich fühlte angesichts dieser gewaltigen und mächtigen Präsenz.
„Kannst du schon etwas sagen?", hörte er Bullys Stimme. Sein Freund stand schräg hinter ihm. Ohne sich umzudrehen, flüsterte er: „Nichts Konkretes, Dicker. Es ist noch sehr vage. Eine Macht. Eine sehr alte und große Macht."
Macht, Größe ... Alter und Unendlichkeit ... Er öffnete seinen Geist, so weit er konnte, und nahm nur auf, ohne verstehen zu wollen und Fragen zu stellen.
Nur langsam gelangte er tiefer. Er drang ein kleines Stück in die Präsenz ein und konnte erste klarere Eindrücke gewinnen. Sie erschreckten ihn, denn was er wahrnahm, war Irritation, grenzenlose Unsicherheit ähnlich wie bei den Eingeborenen, aber ungleich stärker. Er musste aufpassen, dass er nicht in ihr erstickte und hineingerissen wurde in das Hin und Her von chaotischen Eindrücken, die sich jetzt zu Furcht, Verzweiflung und Schmerz verdichteten.
Dabei hatte er immer das Gefühl, nur so viel gezeigt zu bekommen, wie die Säulen ihm zeigen wollten. Als er begriff, was dies in der Konsequenz bedeutete, wurde ihm erst bewusst, dass sie genau wussten, dass er da war.
Und dass sie, ganz vorsichtig, unsichtbare Fühler nach ihm ausstreckten.
Es war ein zaghafter erster Kontaktversuch ihrerseits. Ja, es war eine gewaltige Präsenz, eine Wesenheit, aber sie bestand aus mehreren – neun – Komponenten. Und er war nun fast sicher, dass er etwas sehr Ähnliches schon einmal erlebt hatte. Es war nicht das Gleiche, es gab Unterschiede, aber die Ähnlichkeit war nicht mehr zu leugnen.
Doch bevor er versuchen konnte, in Gedanken eine erste Frage zu formulieren, zogen die psionischen Fühler sich aus seinem Geist zurück. Die Neun standen wieder in ihrer stillen und doch so trügerischen Erhabenheit vor ihm und schwiegen.
„Gucky?", riss Bulls Stimme ihn aus seiner Trance.
Er holte tief Luft und drehte sich zu ihm um. Auch Jan sah ihn fragend an.
„Wir müssen warten", sagte er, als er in Bulls Gesicht ebenfalls diese bestimmte Frage sah. Natürlich, warum schloss er es noch aus? Warum erlöste er sie nicht?
„Wir warten", wiederholte er. „Ich will mir ganz sicher sein. Wir warten bis Sonnenaufgang."
Bull nickte. „Du meinst, falls die Sonne aufgeht", sagte er mit Blick zum Himmel.
7.
Ela Das Erste, was sie fühlte, waren Schmerzen, als würde ein glühender Speer durch ihren ganzen Körper getrieben. Das Erste, was sie hörte, war ihr eigenes Wimmern. Das Erste, was sie sah, als sie blinzelnd die Augen öffnete, waren der rote Himmel und die Wipfel der Bäume über ihr. Der neue Morgen begann zu dämmern. Die Nacht war vorüber – diese schreckliche Nacht!
Die Erinnerung traf sie wie ein Peitschenschlag und ließ sie auf der Stelle verstummen.
Ela lag auf dem Rücken. Als sie die Arme zu bewegen versuchte, durchfuhren sie neue Schmerzen. Ihre Beine fühlten sich an wie taub. Und als sie den Kopf nach rechts drehte, sah sie die Männer.
Der Schrei erstickte in ihrem Hals.
Die widerlichen Szenen explodierten vor ihrem geistigen Auge, und von ihrem Unterleib aus durchströmte sie eine weitere Schmerzwelle, schlimmer noch als alle anderen. Ihr Körper schüttelte sich vor Ekel.
Die Männer, drei an der Zahl, lagen wenigen Meter von ihr entfernt im Unterholz und schliefen. Sie hatten sie an Körper und Seele verletzt. Sie hatten ihr tiefe Wunden geschlagen, von denen sie nicht wusste, ob sie jemals wieder heilen würden.
Ela wusste nur, dass sie von hier fliehen musste, bevor die Männer erwachten. Noch einmal würde sie diese Tortur nicht überstehen.
So leise wie möglich
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