2308 - Die Schattenlosen
Bani, die mit ihr auf dem Meer gewesen war.
In ihrer Stimme lag keine Heiterkeit mehr, und Ela begriff, dass ihre und Tavas Herumulkerei von vorhin nur der Versuch gewesen war, sich von dem abzulenken, was sie alle spürten.
Und das war niederschmetternd!
Das verheerende Unwetter hatte sich gelegt. Es regnete, stürmte, blitzte und donnerte nicht mehr, doch die Stille war vielleicht noch schlimmer. Nichts regte sich, nicht das kleinste Lüftchen.
Alles schien stillzustehen, selbst der Saft in den Bäumen des Waldes, der Coralie zum Land hin umgab. Es stimmte, es sang kein Vogel.
Nur das Schreien und Weinen der Kinder war zu hören – es waren nun mehr, wie ein schauriges Echo; ein Chor, der sich langsam einstimmte.
Aber davon abgesehen war es, als hielte die ganze Welt den Atem an.
„Als würde sie warten", flüsterte Ela.
„Worauf?"
Doch selbst diese lähmende, irritierende Stille war nichts im Vergleich zu dem Himmel, den sie sah.
Gestern war er fürchterlich gewesen.
Onas Zorn schien ihn zerwühlt zu haben mit seinen dunklen, sich zu gewaltigen Gewittertürmen zusammenballenden Wolken, aus denen es schüttete wie am Letzten Tag. Seit Tagen schon war er nicht mehr grün gewesen, sondern braun und orange. Nun aber war er rot wie Blut, und die im Licht der noch tief stehenden Sonne grell leuchtenden Wolken zogen schnell über das Land, obwohl kein Wind wehte.
Selbst die Sonnenmutter, wenn sie denn einmal eine Lücke fand, hatte sich verändert. Ela konnte es nicht beschreiben. Sie fühlte es mehr. Ihr Licht war nicht wie sonst. Manchmal schien es zu flackern. Sie wusste nicht, was es war, aber auch das war so grauenhaft falsch!
War Ona auch zornig auf sie, die Coralie, ihre Kinder?
Die Fischerin fühlte, dass sie etwas tun sollte, aber sie wusste nicht, was.
Das war etwas, das sie auch erst seit einigen Tagen kannte, aber noch nie war dieses Gefühl der inneren Leere so quälend gewesen wie heute.
Sie war es gewohnt, mit den ersten Strahlen der Sonnenmutter und dem Gesang der Vögel aufzustehen und zu wissen, wie sie ihren Tag begann und was sie tun würde. Es gab immer Arbeit genug für sie, ihre Gefährtinnen und die Männer des Stammes. Wenn sie nicht aufs Meer hinausfuhr, streifte sie durch den Wald, um Früchte und kranke Tiere zu sammeln und zu beobachten. Wenn sie müde ins Dorf zurückkehrte, flocht sie oder nähte Felle und Leder. Sie war eine Meisterin im Bearbeiten der Warwa-Zähne, aber nichts davon erschien ihr plötzlich mehr sinnvoll.
Sie hatte keine richtige Richtung mehr. Sie fühlte sich leer und gleichzeitig aufgewühlt.
„Was geschieht mit uns, Bani?", fragte sie ihre Freundin. „Was geschieht mit der Welt?"
„Die Spürerin hätte es dir vielleicht sagen können", murmelte die junge Fischerin. „Aber sie kann es nicht mehr.
Vielleicht ist sie ..."
„... deshalb zu Ona gegangen?", fragte Ela.
Bani gab keine Antwort.
„Erkrah", sagte Ela. „Der Deuter. Ihn werde ich fragen."
„Es heißt, er sei krank", flüsterte Bani. „Weil sich der Himmel so verändert hat."
Ela wusste, was sie meinte. Es war nicht der Himmel, den sie bei Tag sahen, sondern der Himmel jenseits des Himmels, mit seinen Lichtern in den klaren Nächten. Es waren neue hinzugekommen, sehr viele neue. Nicht wenige hielten das für ein böses Zeichen.
Vielleicht hatten sie Recht. Aber wenn der alte Erkrah ihr nicht sagen konnte, was mit der Welt passiert war, wer dann?
... und vielleicht die Schattenlosen ...
Joahs Worte klangen in Elas Kopf nach und mit ihnen die Angst und die Unsicherheit.
„Ich werde zu ihnen gehen, zum Heiligen Hügel", sagte die Fischerin zu ihrer Gefährtin und reichte ihr ihre kleine Tochter. Bani nahm Shana und schlug schützend ihre Felle über sie.
„Allein?"
„Ja." Ela hatte sich bereits drei Schritte von ihr entfernt. Jetzt blieb sie noch einmal stehen und sah über die Schulter zurück.
„Und danke, Bani – dafür, dass du mich aus dem Wasser geholt hat."
Bani sah sie nur an. Keine Freude stand in ihrem Blick; nur eine Leere, die Ela schaudern ließ.
Sie wandte sich endgültig um und marschierte aus dem erwachenden Dorf, hinaus aus dem endlosen Kreis der Zelte, vorbei am Brunnen, dem Männerzelt und den Türmen, und betrat den Weg, der in den dichten Wald und zum Hügel führte. Sie wusste nicht, was sie sich davon versprach oder erhoffte. Sie wusste nichts mehr.
Sie fühlte sich fehl am Platz in einer Welt, die sie nicht mehr verstand, nicht mehr
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