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235 - Auf dem sechsten Kontinent

235 - Auf dem sechsten Kontinent

Titel: 235 - Auf dem sechsten Kontinent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael M. Thurner
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den Zugang zu Informationen. Wenn Nanette nicht aufpasste, entglitt ihr die Kontrolle über die Geschehnisse.
    »Franke!«, rief sie laut. »Komm doch bitte mal herein…«
    Die Kabinentür öffnete sich, der Riese bückte sich und trat mit vorsichtigen Schritten in den Raum. Über das gerötete Gesicht und die klammen Hände zog sich eine dünne Eisschicht, die in der Wärme der Kabine rasch dahinschmolz. »Kann ich helfen?«, fragte er.
    »Setz dich für einen Moment zu mir«, schnurrte Nanette und bedeutete ihm, auf dem Bett Platz zu nehmen.
    Zögernd gehorchte der Franke. Der Holzrahmen des Bettes stöhnte unter seinem Gewicht.
    »Du bist ein großer, stattlicher Kerl«, begann sie vorsichtig, »und ich mag dich. Ich mag dich sehr.«
    Der Franke ließ den Kopf hängen. Wie ein kleines Kind, das man maßregelte. »Du lügst«, sagte er mit trauriger Stimme. »Ich bin hässlich. Die anderen Menschen haben Angst vor mir. Sie gehen mir aus dem Weg…«
    »Weil sie Respekt haben, mein Großer.« Nanette legte ihre Rechte wie unbeabsichtigt auf sein Bein. Es fühlte sich hart und sehnig an. »Ich mag Menschen, die Respekt einflößen. Ich mag starke Männer. Es kommt nicht nur auf das Aussehen an.« Nanette unterdrückte ein Kichern. Sie hatte ausreichend Alkohol intus, um hemmungslos lügen zu können und das über sich ergehen zu lassen, was sie vom Franken erwartete. Sie schob sich hoch zu ihm, sah ihm tief in die Augen. »Du frisst mich mit deinen Blicken auf, mein Großer. Vom ersten Tag an, als du im Dom aufgetaucht bist, wolltest du mich, nicht wahr?«
    »Ich…«
    »Warum hast du mich denn nie gefragt? Merkst du nicht, wie sehr ich dich achte und wie sehr ich schätze, was du für mich tust?«
    »Ich… ich …«
    Er stieß ein animalisches Grunzen aus, als fehlten ihm die Worte, um seine Gefühle auszudrücken. Er bewegte den Körper unruhig hin und her, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er davonlaufen oder sich auf sie stürzen sollte.
    »Ein so ein großer, starker Kerl wird doch nicht etwa Angst haben vor einem zarten Geschöpf wie mir? Oder?« Sie beugte sich vor und flüsterte dem Franken ins Ohr: »Ich sag dir, was wir jetzt machen: Du sperrst die Kabine von innen zu, und ich verdunkle das Bullauge. Pierre kehrt frühestens in vier Stunden zurück. Er ist im Maschinenraum beschäftigt. Ich wäre mehr als glücklich, wenn ich mich für deine Hilfe bedanken könnte.«
    Er nickte hilflos, stand mit hölzernen Bewegungen auf, ging auf die Kabinentür zu und verriegelte sie. Dann kam er auf sie zu, mit weit ausgestreckten Armen.
    Für einen Augenblick schreckte Nanette zurück. In seinem Blick sah sie etwas, an das sie sich kaum mehr erinnerte. Pierre hatte es gezeigt, vor langer, langer Zeit.
    Liebe. Die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach einem Platz, an dem er sicher war in dieser Welt voller Gefahren, Ungewissheiten und der Angst. Aber nein! Sie musste sich täuschen.
    Liebe war ein Luxus, den sich kein Mensch in dieser schrecklichen Zeit leisten konnte. Der Franke war wie alle Menschen. Er sehnte sich nach Leidenschaft, nach Sex.
    »Komm her, mein Großer«, gurrte sie und ließ sich auf den Rücken fallen. »Doch bevor wir uns umarmen, musst du mir etwas versprechen. Eine Kleinigkeit.«
    Er nickte, ohne zu verstehen, was sie eigentlich meinte. Sie hatte ihn in einem Netz gefangen, aus dem er nicht so leicht wieder herauskam. »Ich mache alles, was du willst.«
    »Das freut mich zu hören.« Nanette zog ihn zu sich herab, presste ihn eng an sich. »Ich möchte, dass du Folgendes für mich erledigst…«
    ***
    Nach dem mysteriösen Verschwinden Davides übernahm Boris das Kommando über die Expedition. Er galt als hochintelligent, besaß aber nur wenig Charisma und Durchsetzungsvermögen. Zur Verwunderung vieler wurde er in einer geheimen Wahl für die Spitze bestimmt. Gerüchte über Manipulationen, Drohungen, Repressalien und ähnlich hässliche Dinge machten die Runde, doch niemand war daran interessiert, ausgerechnet jetzt interne Streitigkeiten vom Zaun zu brechen.
    Die Temperaturen stiegen allmählich an, während die Schiffe die Eisküste entlang fuhren. Nach zwei Wochen erschienen ihnen die Ängste vor Eisbergen, Riesenwellen und unheimlichen Geschöpfen nur noch wie die Erinnerungen an schlechte Träume. Der Wind brachte einen Geruch Hoffnung mit sich, und er sorgte dafür, dass sich die bislang verkniffenen und sorgenverhangenen Gesichter der Menschen ein wenig aufhellten.
    Erstmals seit

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