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24 - Ardistan und Dschinnistan I

24 - Ardistan und Dschinnistan I

Titel: 24 - Ardistan und Dschinnistan I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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stand ‚Schöpfung‘ und nach Norden ‚Erlösung‘. Nach Osten lasen wir ‚Sünde‘ und nach Westen ‚Strafe‘. Unter der Überschrift ‚Schöpfung‘ im Süden war zu lesen:
    ‚Keine Seele kam zur Erde nieder,
die nicht vorher Geist im Himmel war!‘
    Auf der nach Norden gerichteten Seite war unter der Überschrift ‚Erlösung‘ zu sehen:
    ‚Es stieg kein Geist zum Himmel auf,
der nicht vorher Seele auf der Erde war!‘
    Nach Osten zu stand unter der Überschrift ‚Sünde‘ der geheimnisvolle Satz zu lesen:
    ‚Nur ein Einziger weigerte sich,
Seele zu werden!‘
    Und dem gegenüber wurde auf der nach Westen gerichteten Seite unter der Überschrift ‚Strafe‘ gesagt:
    ‚Darum kann er nicht zum Himmel zurück.
Das ist der Teufel!‘
    Ich kann sagen, daß ich erstaunt war, als ich das gelesen hatte. Nicht etwa, daß mir das Monument an sich oder eine seiner Inschriften wunderbar vorgekommen wäre, o nein. Der Dschinnistani hatte diese Marmorstücke von seinen Reisen einzeln mitgebracht und hier zusammengesetzt. Das war ganz und gar nichts Wunderbares. Und es ist, solange es Menschen gibt, so viel gerätselt worden, daß man in der Absicht des Dschinnistani, auch einmal etwas Mystisches zu sagen, wohl gar nichts Unbegreifliches finden kann. Aber daß diese vier Inschriften, deren jede ein gänzlich unlösbares Problem zu enthalten schien, in ihrem inneren Zusammenhang genau dasselbe sagten, was unsere christliche Offenbarung einem jeden, der es hören will, wohl täglich oder stündlich sagt, das überraschte mich, und das ließ in mir die Frage aufsteigen, ob dem Dschinnistani, als er diese Inschriften entstehen ließ, klar gewesen ist, was sie eigentlich bedeuten. Wenn es seine Absicht war, den tiefsten Grundgedanken der Religion seines Heimatlandes auf diesem Monument darzustellen, dann war es der christlichen Mission sehr leicht gemacht, die Anhänger dieses Glaubens für die Hauptreligion des Abendlandes zu gewinnen! Hierzu kam, daß das Marmorprisma mit ganz besonderer Umsicht und Liebe grad hier an dieser Stelle errichtet worden war. Da wir uns nun an seiner nördlichen Seite, also zwischen ihm und dem Wasser befanden, stand es uns nicht mehr im Weg, und der ganze Ausblick, den es uns verhüllt hatte, lag jetzt offen vor uns da.
    Jenseits des Weihers stand das Grab der Mutter des Dschirbani, von Blüten und Duft umhüllt, wie bereits beschrieben wurde. Von ihm ausgehend führte ein breiter, freier Wiesenstreifen in schnurgerader Richtung, hüben und drüben von dichtem, dunklem Grün eingefaßt, bis an den Fluß, dessen gegenüberliegendes Ufer frei von Häusern war. Von dort aus erschienen zunächst nur Gärten und Felder, dann ein breites, sich weit hinausziehendes Band von niedrigem, neugewachsenem Gestrüpp, wo die Ussul gerodet hatten, um die Stämme zu ihren Bauten zu benutzen. Es läßt sich nicht beschreiben, was das für eine eigenartige Perspektive ergab. Grad zu unseren Füßen das zwar durchsichtige, aber moderbräunliche und moderduftende Wasser, aus dessen Auflösung und Verwesungsstoffen die Lotosblume ihr Leben und ihre leuchtenden Farben sog. Am jenseitigen Ufer das Grab der verstorbenen menschlichen Lotosblume, von Blüten umglänzt und von Wohlgerüchen umduftet, hinter diesem Grab die nach weit hinaus und nach oben gerichtete Perspektive. Sie führte nach dem Fluß, über die dunklen Wasser desselben hinüber und dann auf jenem scheinbar immer schmaler werdenden Band des niedrigen, neugewachsenen, vom hohen Wald umfaßten Gestrüpps durch das ganze Schwemmland der Ussul, über Niederardistan und Oberardistan bis zu jenen hohen Bergen hinauf, die auch jetzt, um das geöffnete Paradies anzudeuten, in glühenden Flammen leuchteten, obwohl wir es nicht sehen konnten, weil die Morgennebel des Tieflands uns noch umhüllten.
    Indem dieser Ausblick nicht nur unsere Augen, sondern auch unsere Gedanken fesselte, hörten wir hinter uns ein Geräusch. Wir drehten uns um und sahen, daß das Monument sich öffnete und der Dschirbani ihm entstieg.
    „Maschallah!“ rief Halef aus. „Allah tut Wunder! Das Denkmal ist hohl!“
    Auch ich war sehr überrascht. Das Kunstwerk war allerdings nicht massiv; es bestand nicht aus kubischen Blöcken, wie es den Anschein hatte, sondern aus starken, fest zusammengefügten Platten, zwischen denen eine Reihe von Stufen abwärts führte. Einige dieser Platten bildeten die Tür, welche von innen und von außen geöffnet werden konnte, ohne daß Leute,

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