24 - Ardistan und Dschinnistan I
war sie sehr still. Sie dachte nach. Erst nach längerer Zeit traten diese ihre Gedanken zutage, indem sie sagte:
„Das Leben ist doch etwas ganz, ganz anderes, als gewöhnliche Menschen denken! Gott dirigiert; gewoben aber wird es nicht nur von uns selbst, sondern außer uns auch von Personen und Kräften, auf die wir zu achten haben; von großen Meisterinnen und Meistern; von Gesellen, die noch nicht Meister sind, und von Lehrlingen, deren Hand, wenn man sich auf sie verläßt, meist alles verdirbt. Die größte Meisterin, der alles gelingt, ist Marah Durimeh. Auch der Dschinnistani war ein Meister. Der Sahahr ist Lehrling. Seine Frau, die Priesterin, denkt schon höher als er. Sie weiß zwar noch nichts, aber sie ahnt den Zusammenhang der Dinge. Ich bin ihre Vertraute, ich allein. Effendi, willst du ehrlich sein und mir aufrichtig bekennen, daß ihr Bild nicht klar und rein vor deinem inneren Auge steht?“
„Ich bekenne es.“
„Es kann nicht anders sein. Aber es tut mir weh, sie von dir noch ungekannt zu sehen. Sie ist edel; sie ist rein. Wenn du mir versprichst, zu schweigen, so will ich dir ein Geheimnis mitteilen, dessen Kenntnis dich befähigt, die Wahrheit zu schauen. Es betrifft den Dschirbani. Wenn ich es dir erzähle, so tue ich das aus zwei Gründen. Nämlich um die Ehre meiner Freundin in deinen Augen zu retten und um dich zu befähigen, meinen Schützling, den Dschirbani, von falschen Gedankenwegen abzulenken. Ihm aber darfst du nur in der höchsten Not etwas davon sagen. Versprichst du mir das?“
„Ich verspreche es.“
„So erschrick nicht über das, was ich dir berichten werde! Du warst bei ihm. Hast du das Grab seiner Mutter gesehen?“
„Ja.“
„So wisse: es ist leer!“
Ich war betroffen, sagte aber nichts und sah sie fragend an.
„Du wirst erschrocken sein“, fuhr sie fort.
„Erschrocken nicht“, antwortete ich. „Doch staune ich, daß er so richtig fühlt und richtig ahnt.“
„Wie? Er ahnt es?“
„Ja. Er bezweifelt, daß seine Mutter gestorben sei. Es gibt Augenblicke, in denen er das Grab mit den Händen aufkratzen möchte, um nachzuweisen, daß der Sarg leer ist.“
„Er ist nicht leer. Er enthält an Stelle der Leiche eine wohlverwahrte Schrift, die alles aufdeckt, was damals geschah. Der Sohn war verreist, um ferne Verwandte zu besuchen. Die Mutter, die wir alle für verwitwet hielten, war also allein. Sie wohnte, wie du weißt, auf der ‚Insel der Heiden‘. Des Abends, als niemand ihn sah, erschien ihr Mann bei ihr, der Dschinnistani, der bei uns für tot gegolten hatte. Er lebte noch. Er wohnte in Dschinnistan und kam, sie dorthin abzuholen. Aber nur sie, den Knaben nicht. Der hatte noch zu bleiben. Und dennoch wurde er von beiden geliebt, wie nur Vater und Mutter lieben können. Begreifst du das, Sihdi?“
„Sehr gut! Es gab höhere Rücksichten, denen man zu gehorchen hatte. Diese Rücksichten hatten dem Dschinnistani bisher verboten, zurückzukehren oder auch nur etwas von sich hören zu lassen. Sie untersagten ihm jetzt, den Sohn mitzunehmen oder ihm auch nur mitzuteilen, daß der Vater dagewesen sei, um die Mutter zu holen. Diese letztere kam zu euch, um euch das zu erzählen, um Abschied zu nehmen und euch das Wohl ihres Sohnes an das Herz zu legen? Sie war vorher bei ihren Eltern gewesen? Der Sahahr schied im Zorn von ihr? Er jagte sie fort, weil er geistig nicht hoch genug stand, die Verhältnisse, von denen sie sich leiten ließ, zu begreifen? Aber von ihrer Mutter wurde sie verstanden? Die gab ihr sogar ihren Segen mit, ihren Segen und die Hoffnung auf ein glückliches Wiedersehen?“
Da hielt Taldscha ihr Pferd wieder an. Sie staunte.
„Woher weißt du das?“ fragte sie. „So richtig und so ausführlich! Du kannst es unmöglich wissen und weißt es doch! Es ist ein Wunder!“
„O nein! Es ist vielmehr ganz natürlich! Man kann, ja man muß es sich denken, weil es so außerordentlich einfach ist. Als sie fort war, dünkte es dem Sahahr unmöglich, öffentlich einzugestehen, daß seine Tochter, die spätere Priesterin der Ussul, aus Liebe zu ihrem Mann ihr Land und Volk verlassen habe, um nach Dschinnistan zu gehen. Auch konnte er nicht begreifen, daß eine Mutter dies tun könne, ohne ihr Kind mitzunehmen, ohne es auch nur erst noch einmal zu sehen! Seine Tochter war für ihn eine Verbrecherin. Er begrub sie in seinem Herzen, und er begrub sie auch auf der ‚Insel der Heiden‘, um das, was er für eine Schande hielt, verschweigen zu
Weitere Kostenlose Bücher