24 - Ardistan und Dschinnistan I
höher Gott wächst, um so kleiner wird das Geschöpf. In dem Augenblick, an dem der letzte Rest des Alls verschwindet, wird Gott am größten sein. Darum klug und selig der Mensch, der nicht nach Erdenglück und Menschenwohl, sondern nach Gottes Größe trachtet. Er wird immer unwägbarer, immer kleiner und kleiner werden, bis seine Existenz vollständig zu Ende ist und er ganz in Gott verschwindet. Dieses Aufhören alles eigenen Seins, dieses völlige, restlose Aufgehen in Gott, so daß es nicht mehr die geringste Spur von Erinnerung gibt, ist unsere Seligkeit, ist unser einziges und höchstes Ziel, ist – Nirwana!“
Er hatte, während er sprach, seinen Sitz verändert, war mehr nach der Seite gerückt. Darum sah ich jetzt sein Gesicht, zwar nur im Halbprofil, aber wenn er es dem Minister zuwendete, hatte ich es beinahe en face vor mir. Es war ein schönes, beinahe ehrwürdiges, geistreiches Männergesicht mit silberglänzendem Vollbart; aber er hatte einen Fehler, der ihm alle seine Schönheit und Würde wieder benahm; er schielte nämlich, und zwar so stark, daß es jedermann gleich beim ersten Blick auffallen mußte, sogar solchen Leuten, die nicht gewohnt sind, auf die Fehler ihrer Mitmenschen aufzupassen. Ließ schon dieses sein Äußeres erraten, daß er kein gewöhnlicher Mensch sei, so zeigten auch seine Worte, daß er ebenso auf intellektuellem Gebiet auf Wegen wandelte, die der Fuß alltäglich denkender Menschen nicht betritt. Er schien sich sogar über die Grenzen, welche den Gedanken der Sterblichen gezogen sind, hinausgewagt zu haben. Ich bin überzeugt, daß gar mancher andere an meiner Stelle das, was ich gehört hatte, für puren Wahnsinn erklären würde; ich aber war geneigt, es einstweilen als die allerdings höchst seltsame Übertreibung einer an sich ganz gesunden Idee zu betrachten, der man im geistigen Leben der Völker auf Schritt und Tritt zu begegnen pflegt, ohne sie sonderlich zu beachten. Während diese Idee dem gebildeten Europäer nur als nebensächlich erscheint, lieferte sie dem Maha-Lama das Milieu, in dem er aufgewachsen und unterrichtet worden war. Aus ihr bestand seine ganze Atmosphäre. Er atmete in ihr. Sie verursachte die religiöse Überspanntheit, an der er litt. Darum fiel es mir nicht ein, mich über das, was er gesagt hatte, zu wundern oder gar darüber zu lächeln. Ich sah ihn in diesem Augenblick nicht als Oberhaupt einer zahlreichen Glaubenssekte vor mir, sondern als einen mächtigen, hochinteressanten Gegner meiner Freunde, der gekommen war, sie zu überlisten und um ihre Selbständigkeit zu betrügen. Grad jetzt, in diesem Augenblick, wo sie einem raffinierten Feind so viele und so gefährliche Angriffspunkte boten! Ich konnte über das, was ich zu tun hatte, nicht im Zweifel sein. Ich hatte erreicht, was ich erreichen wollte. Ich wußte, wen ich vor mir hatte. Ich kannte sogar die Absichten, welche diese beiden Männer verfolgten. Nun fragte es sich, ob ich mich wieder zurückziehen oder ob ich bleiben sollte, um vielleicht noch mehr zu erfahren. Da wandte sich der Lama den Dienern zu und sagte in befehlendem Tone:
„Die Zeit des Nachtgebetes ist gekommen!“
Einer von ihnen stand auf und holte einen Gong, der bei den Gepäckstücken lag. Dann beiseite tretend, verbeugte er sich nach den vier Himmelsgegenden und ließ bei jeder dieser Verbeugungen das Metallbecken dreimal erklingen. Dann kniete er nieder und betete. Auch die andern falteten die Hände und murmelten die vorgeschriebenen Worte. Nur der Maha-Lama betete nicht. Er war ja Gott selbst. Zu sich selbst zu beten, hält er für unsinnig; aber sich für Gott selbst zu halten, das dünkte ihm kein Wahnsinn! Es waren nur wenige Augenblicke, aber sie ergriffen mich doch sehr tief. Vor mir hatte ich das langsam sich bewegende Wasser des Flusses, der mit phosphoreszierendem Schein aus dem Dunkel des Urwaldes trat und dann quer durch den farbigen Glanz des brennenden Feuers flutete: die phantastisch beleuchteten Gestalten der Pferde und Kamele; die fünf am Boden knienden Beter; den einzigen sechsten, der nicht betete, sondern hoch und stolz erhobenen Angesichts hinauf zu den Sternen sah, als ob er die emporsteigenden Gebete da oben in Empfang zu nehmen habe. Die zwölf Schläge des Gongs hatten jenseits des Flusses an der dichten Wand des Urforstes ein zwölffaches Echo erweckt, welches abwärts bis an die Krümmung des Wassers schallte und von dort wieder zurückgeworfen wurde. Das gab in die bisherige
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