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24 - Ardistan und Dschinnistan I

24 - Ardistan und Dschinnistan I

Titel: 24 - Ardistan und Dschinnistan I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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erhalte, wiederholte er sich im weithin schallenden Bariton:
    „Ja Kudah, ja Kudah, ja Kudah – o Gott, o Gott, o Gott!“
    „Sihdi, was ist das? Wer ist das? Wo kommt es her?“ fragte Halef, indem er sich überrascht in die sitzende Stellung aufrichtete.
    „Still!“ bat ich. „Hören wir weiter!“
    „Glaubst du, daß es sich wiederholt?“
    Ja, es wiederholte sich, und zwar mit vereinten Stimmen. Im Alt und Bariton zugleich scholl es zu uns herab:
    „Ja Kudah, ja Kudah, ja Kudah – o Gott, o Gott, o Gott!“
    Das klang so un- oder überirdisch! Es war, als ob Geister über uns schwebten, deren Stimmen uns fassen wollten, um uns hinaufzuheben. Nach einer kurzen Stille folgte diesen einleitenden Ausrufungen etwas vollständig Unbeschreibliches, für das wir in unserer abendländischen Musik und Kunst nicht einen einzigen Ausdruck haben, mit dem es möglich wäre, das was wir hörten, auch nur annähernd zu bezeichnen. Es waren zwei Stimmen. Ein wunderbarer, jugendlich frischer Alt oder Mezzosopran und ein ebenso wunderbarer, tief ergreifender Baßtenor, bei uns Bariton genannt, die so fern voneinander und doch so nahe beieinander klangen, als seien alle himmlischen und alle irdischen Lobpreisungen in diesem einen ‚Ja Kudah‘ und was darauf folgte, vereint. Und was nun hoch in den Lüften über uns betete und flutete, das war ein Duett und dennoch keines; das waren Lieder, ohne Lieder zu sein; das war Gesang in seiner allerhöchsten, weil einfachsten Kunst, und doch kein Gesang, sondern nichts als Sprache, nur Sprache, aber jene vollendete Sprache, die erst dann über die ganze Erde klingen wird, wenn die Kunst nicht mehr zu herrschen, sondern zu dienen strebt und die Güte und Barmherzigkeit die Grammatik des einen, großen, humanisierten Menschheitsvolkes lehren.
    Warum ich da gerade die köstlichen Eigenschaften der ‚Güte‘ und der ‚Barmherzigkeit‘ in Erwähnung bringe, wird der Leser wohl morgen früh schon merken, wenn wir erfahren, wessen Stimmen es waren, die wir hörten. Es handelte sich jedenfalls um eine männliche und eine weibliche Person, welche, wie es schien, hoch oben auf der Platte des Felsentores standen. Sehen konnten wir sie nicht. Höchstwahrscheinlich aber hatten sie uns gesehen. Daß sie trotzdem sangen, sich also nicht vor uns verbargen, war ein Beweis ihrer Friedfertigkeit und Ungefährlichkeit. Und auch fromme Menschen waren sie. Wer an nichts glaubt und kein Bedürfnis hat, sich innerlich zu erheben, dem fehlen Worte und Töne, wie die waren, die wie auf Engelsflügeln jetzt droben im Mondschein schwammen. Sie verklangen in einer langsamen, feierlichen Melodie, welche von dem Alt gesungen, vom Bariton begleitet wurde und mit demselben Ruf schloß, mit dem der Gesang begonnen hatte: „Ja Kudah – o Gott!“
    Als nun wieder Stille um uns herrschte, versuchte Halef, seiner Gewohnheit nach, sich in Fragen und Vermutungen über den Sänger und die Sängerin zu ergehen; ich aber wollte mir den tiefen Eindruck, den die Stimmen auf mich gemacht hatten, nicht hinwegschwatzen lassen und gab ihm eine so kurze Antwort, daß er mich begriff und infolgedessen schwieg. Als ich dann einschlief, trat ein lieber, holder Traum zu mir heran und zeigte mir herrliche Wesen, die mich umschwebten. Ihre Farbe war die des leuchtenden Goldes und weißer, duftiger Rosen. Ihre Gestalten erschienen mir köstlicher und schöner, als Menschen je gestaltet gewesen sind. Und ihre Stimmen erklangen in liebevollen, beglückenden Tönen, die mir die Brust so weit und selig machten, daß ich tief Atem holte, die frische, weiche Morgenluft einsog und dann die Augen öffnete. Ich wachte auf. Die Gestalten waren nicht mehr zu sehen, aber ihre Stimmen erklangen weiter, nicht mehr so nahe bei mir, sondern wie gestern abend, von hoch oben herab. Ich schaute hinauf und konnte die beiden Singenden ganz deutlich erkennen. Es war so, wie ich vermutet hatte: Sie standen auf der Querplatte des Felsentores, ganz vorn, auf einer kühn vorspringenden Stelle. Sie mußten völlig schwindelfrei sein, um dies zu wagen. Es war eine männliche und eine weibliche Person, deren Alter ich der Entfernung wegen nicht bestimmen konnte. Ihre hellen, weiten Gewänder flatterten im Hauch des jungen Tages, der da oben natürlich kräftiger war als hier unten bei uns in der geschützten Tiefe. Vom Morgenrot umflossen, erhielten sie dadurch, daß die Falten ihrer Kleidung sich bewegten, den Anschein, als ob sie selbst in Bewegung seien

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