24 Stunden
Karen einen Blick auf das New England Journal of Medicine. Wie immer, wenn sie greifbaren Symbolen des Berufes, den sie gezwungenermaßen hatte aufgeben müssen, gegenüberstand, stiegen Wut und Enttäuschung in ihr auf. Sie war insgeheim froh, dass ihr die Blumenausstellung eine Entschuldigung geliefert hatte, Will nicht zum Ärztekongress begleiten zu müssen. Bei derartigen Veranstaltungen schrieben ihr Männer, die ihr in der Chemievorlesung nicht das Wasser hatten reichen können, nur den Status der »Ehefrau eines Arztes« zu.
In diesem Magazin sollte im nächsten Monat Wills Forschungsarbeit über das neue Medikament veröffentlicht werden, während sie sich mit dem nächsten Projekt des Wohltätigkeitsverbandes beschäftigen würde. Sie schob die Zeitschrift mit der anderen Post zur Seite und öffnete den Kühlschrank aus rostfreiem Stahl.
In der Küche standen nur Küchengeräte von Viking. Diese hochwertigen Geräte wurden in Greenville, Mississippi, hergestellt. Seit Will die Epiduralanästhesie bei zwei Frauen des Unternehmens durchgeführt hatte, wartete das Haus der Jennings - mit einer Küche auf, die aus dem Architectural Digest, der heute mit der Post gekommen war, hätte stammen können - natürlich zu einem günstigeren Preis. Karen war mit einem lauten, alten Coldspot-Kühlschrank von Sears aufgewachsen, und die Wäsche wurde damals noch zum Trocknen auf eine Leine gehängt. Obwohl sie Luxus schätzte, wusste sie, dass zum Leben mehr gehörte als ein wunderschönes Haus und Blumenausstellungen. Sie nahm die Teekanne aus dem Kühlschrank, stellte sie auf die Anrichte und schnitt eine Zitrone in Scheiben.
Abby ging langsam durch den dunklen Flur. Als sie an ihrem Zimmer vorbeikam, schaute sie durch die halb geöffnete Tür. Ihre Puppen und Stofftiere lagen am Kopfende ihres Himmelbettes, so wie sie sie heute Morgen hingelegt hatte. Barbies, Beatrix-Potter-Hasen und Beanie-Babys - kreuz und quer durcheinander wie eine große Familie. So gefiel es ihr am besten.
Abby stieg die fünf Stufen zum Badezimmer des Erdgeschosses hoch und stellte sich auf Zehenspitzen, um an den Lichtschalter zu kommen. Dann zog sie ihre Hose herunter und setzte sich auf die Toilette. Sie war froh, dass sie nicht so viel Pipi machen musste. Das bedeutete, dass ihr Zucker in Ordnung war. Nachdem sie sich wieder angezogen hatte, stieg sie auf den Hocker vor dem Waschbecken, wusch sich sorgfältig die Hände und trocknete sie ab. Anschließend machte sie sich sofort wieder auf den Weg in die Küche. Das Licht im Badezimmer ließ sie an, falls sie später noch einmal aufs Klo musste.
Als sie wieder am Kinderzimmer vorbeikam, bemerkte sie einen seltsamen Geruch. Ihre Puppen sahen alle glücklich aus, doch irgendetwas stimmte nicht. Sie wollte schon in ihr Zimmer gehen, um nachzusehen, als ihre Mutter rief, dass der Tee fertig war.
Abby drehte sich um, und in dem Moment flatterte auf einmal etwas Graues vor ihren Augen herum. Sie fuchtelte instinktiv mit den Händen durch die Luft, als hingen dort Spinnweben, doch ihre Hand traf hinter dem Grauen auf etwas Hartes. Das Graue war ein Handtuch, und in dem Handtuch steckte eine Hand. Die Hand presste das Handtuch auf ihre Nase, ihren Mund und ihre Augen, und der seltsame Geruch, der ihr vorhin aufgefallen war, drang mit jedem Atemzug in ihre Lungen.
Ihr stockte vor Entsetzen der Atem. Sie brachte keinen Ton heraus und versuchte, sich zu befreien, doch da legte sich ein Arm um ihren Körper und hob sie in die Luft, sodass sie vergebens auf dem breiten Korridor mit den Beinen strampelte.
Das Handtuch, das ihr gegen das Gesicht gepresst wurde, war kalt. Im ersten Moment fragte sich Abby, ob ihr Vater vielleicht zurückgekommen war und ihr einen Streich spielte. Das war jedoch ausgeschlossen. Er saß ja im Flugzeug. Überdies würde er sie nie absichtlich erschrecken. Nicht wirklich. Und sie hatte einen mächtigen Schreck bekommen. So einen Schreck wie damals, als sie ins Koma gefallen war. Damals waren ihre Gedanken durch ihre Ohren geflogen, bevor sie sie zu Ende denken konnte, und ihre Stimme hatte Wörter gesprochen, die zuvor noch nie jemand gehört hatte.
Sie versuchte, gegen das Monster, das sie festhielt, anzukämpfen, doch je stärker sie kämpfte, desto schwerer wurde es. Plötzlich wurde alles dunkel, auch vor dem Auge, das bisher nicht verdeckt war. Abby konzentrierte sich, so gut sie konnte, darauf, ein Wort zu sagen, das einzige Wort, das ihr jetzt helfen konnte. Mit
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