2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Compostela.
Zeit unseres Lebens setzt man uns auf
immer neue Fährten an, jagt uns um immer neue Kurven. Man schickt uns eine
Kette aus Neuanfängen entlang, und jeder meint genau zu wissen, was am besten
für uns ist. Niemand aber zeigt uns das, was jeden Neuanfang erst zu seinem
logischen Ende führt, niemand erklärt uns, wo wir an kommen können. So sind wir ewig Suchende, ziellos Umherstreifende, in die Welt
Geworfene, deren Schicksal es ist, nicht zu wissen, wo der Weg aufhören soll.
Unser Leben ist eine Hinbewegung auf etwas, das wir
nicht kennen. Wir sind ständig in Fahrt, irgendwann in Lauf gebracht,
angestoßen wie eine Flipperkugel von einer riesigen Sprungfeder, und damit von
etwas, das uns hinterrücks erwischt und uns einer unbekannten Zukunft entgegen
schleudert, und wie beim Flippern ist auch unser Leben ein chaotischer Tumult,
ein undurchschaubares Tohuwabohu, das — und darauf kommt es an — das aber doch auf irgendein Ziel
hinausläuft, und damit auf etwas, das ihm eine Ordnung verleiht, das ihm ganz
am Ende doch noch eine Struktur gibt, so dass jede Kurve und alles, was uns
anzieht und abstößt, im Nachhinein einen Sinn ergibt. Und das ist im Grunde
genommen das Leben, eine chaotische Bewegung auf ein Ziel hin. Der Haken an der
ganzen Geschichte — denn natürlich muss diese Geschichte einen Haken
haben, einen Knackpunkt, mit dessen Konsequenzen wir uns herumschlagen müssen —
der Haken an der ganzen Geschichte ist, dass wir das Ziel erst entdecken, wenn
wir es erreicht haben und plötzlich um die letzte Kurve gebogen sind, ohne
geahnt zu haben, dass es die letzte Kurve sein wird, jede Kurve kann die letzte
sein, aber es können auch noch Tausende folgen. Wir sind wie Flipperkugeln, die
nicht wissen, dass jede ihrer Regungen, jeder neue Impuls sie weiterführt auf
ihrem chaotischen Weg hin zu einem Schlusspunkt. Wir sind wie Jakobsweg-Pilger,
die plötzlich in Santiago ankommen und nicht wissen, wie ihnen geschieht.
Vielleicht hat der Jakobsweg — von den Flipperautomaten ganz zuschweigen — nicht zuletzt darum diesen
unglaublichen Siegeszug angetreten, weil er eine perfekte Metapher für unser
Heben ist, die unbewusst eine Saite in uns anstößt, deren Schwingung lange in
uns nachhallt. Denn genau so verhält es sich ja im Großen:
Die Entstehung neuer Arten durch Mutation, die etwas peinliche Geschichte mit
dem Affen, das Überleben der am besten Angepassten, das alles ist eine
chaotische Bewegung auf ein Ziel hin, das wir erst
erkennen werden, wenn wir um die letzte Kurve gebogen sind, eine Bewegung bei
der jede Art der folgenden ein Merkmal wie ein Staffelholz überreicht, bis
endlich, endlich, endlich eine Art den Mut findet, sich selbst als Ziel dieser
schwindelerregend langen Kette aus Umständen zu sehen, bis endlich, endlich,
endlich eine Art die Ungeheuerlichkeit dieses Geschenks begreift: Dass nämlich
alle Arten vor ihr für sie gelebt haben. Und dass sie darum in ihr weiterleben
und sie ihr Erbe weiter trägt. Eine schwindelerregend lange Kette aus
Umständen. Ein atemlos machender Zug aus Bewegungen, jede für sich chaotisch
wie eine umher geworfene Flipperkugel, aber auf ein Ziel gerichtet, das wir
erst sehen werden, wenn wir es erreichen. Abgefahren. Der Wahnsinn, wenn man
mich fragt. Wenn Gott wirklich existiert , muss er spielsüchtig sein.
Offizielle Anerkennung als Pilger
Die Ankunft in Santiago de Compostela
ist ernüchternd, aber das liegt in erster Linie daran, dass jede Ankunft zu Fuß
in einer großen Stadt ernüchternd ist; in Burgos und León ist es nicht anders gewesen.
Lastwagen donnern die graubraunen Einfahrtstraßen an uns vorbei. Trotzdem gehen
wir bis zur Westfront der berühmtesten Kathedrale Spaniens, dorthin, wo täglich
Pilgerströme aus allen Richtungen eintreffen. Erst nach und nach wird uns
bewusst, dass wir es tatsächlich geschafft haben, dass wir am Ziel sind:
Santiago de Compostela, geistiges und kulturelles Zentrum Galiziens,
katholischer Erzbischofssitz, Teil des Weltkulturerbes und mittlerweile wohl
bedeutsamster Wallfahrtsort Europas. Ein knappes Drittel der 100.000 Einwohner
sind Studenten; die Universität von Santiago stammt aus dem Jahr 1501. Die
Stadt ist größtenteils aus Granit gebaut, massive, kunstvoll verzierte Gebäude
links und rechts von engen Gassen und Fußgängerzonen prägen das Stadtbild.
Vor allem aber ist Santiago lebendig.
Hier trifft man sie alle: bärtige Abenteurer, die mehrere Tausend
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