2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
gehe ich, um endlich hier anzukommen,
hier, am äußersten Zipfel der galizischen Westküste, zwischen dem Leuchtturm
von Finis Terrae und dem Ozean. Ich habe es
geschafft, ich habe den Weg beendet, ich habe einen Weg beendet.
Und angekommen bin ich an einem Ort, der
hier Die Todesküste genannt wird. Der Küstenabschnitt zwischen Cabo
Fisterra und den Inseln Sisargas ist voller
Erinnerungen an Schiffskatastrophen; die Küstenorte Fisterra, Muxía, Camelle , Crome und andere sind
Warnungen vor der tosenden See. Die Menschen in Fisterra sind gewöhnt an
Stürme, an betäubende Abende, an denen die Winde durch die Gassen der Stadt
wehen, an langsam zermürbenden, tagelangen Nieselregen, an die Launenhaftigkeit
des Ozeans — und seit einigen Jahren sind sie auch an die Ankunft von immer
mehr Gästen gewöhnt. Man kann sogar sagen, dass sie sich bestens auf die
Bedürfnisse der Pilger und Touristen vorbereitet haben. In Restaurants und
Souvenirläden bezahlt man grundsätzlich den ,Touristenpreis’ ,
der etwa ein Drittel über dem sonst Üblichen liegt; zusätzlich ,verrechnen’
sich manche Verkäufer manchmal zu ihren Gunsten. Man kann es ihnen kaum
verübeln: Sie wissen, dass wir Geld haben, dass wir zumeist in euphorischer
Stimmung eintreffen, und dass wir uns vermutlich nicht mehr an sie erinnern
werden, sollten wir eines Tages an diesen Ort zurückkommen.
Unter Pilgern ist es üblich, in Finis Terrae ein Kleidungsstück zu verbrennen oder zurück zu
lassen, als symbolischer Akt der Läuterung, als Zeichen für das Ende eines
Kreislaufs. Ich trenne mich von meiner
Mütze, die mich die ganze Zeit über
begleitet und mich vor manchem Sonnenbrand bewahrt hat. Dann gehe ich ins Meer,
tauche durch die Wellen und sammle Jakobsmuscheln, von denen es tatsächlich
erstaunlich viele gibt. In der Jugendherberge von Fisterra erhalte ich eine
weitere Urkunde: O Concello de Fisterra acredita que Thomas Bauer chegou a estas terras da Costa da Morte e fin do Camino Xacobeo , heißt
es darin in bestem Galizisch. Ich habe es also geschafft, ich bin — nunmehr
auch amtlich — angekommen am Ende des Jakobswegs.
Einem Weg, dessen Reiz in seiner
Vielseitigkeit liegt. Einem Weg, der diejenigen, die auf ihm entlang gehen,
stärker macht, selbstbewusster im Wortsinn. Einem Weg, der Entbehrungen als
Chancen präsentiert und uns mit uns selbst konfrontiert. Der uns zwingt, uns
ständig zu entscheiden: Nimmt man ein fünf Kilometer langes Teilstück bei Regen
in Kauf? Welche Richtung schlägt man ein, wenn an einer Weggabelung kein
Hinweisschild steht? Manchmal muss man umkehren, wenn sich ein Weg als der
falsche herausstellt, und manchmal muss man einen anderen Weg trotz
Hindernissen und einer Sturmfront zäh bis zum Ende gehen. Der Jakobsweg ist
eine Metapher für unser Leben, in dem wir gegen Widerstände ankämpfen, oft die
Richtung wechseln müssen und am Ende dennoch unser Ziel erreichen. Sonne,
Staub, Übernachtungen auf alten Matratzen, unvergessliche Begegnungen und das
große Geheimnis des eigenen Wesens, das ist der Jakobsweg.
Ein Weg, der uns bei unserer Ankunft
einen Ort schenkt, einen Ort wie Finis Terrae , an den
man zurückkehren kann in Gedanken. Ein Weg, der die ehrliche Auseinandersetzung
mit uns selbst verlangt — „ Zwo , eins... Risiko!“, wie
es Darkwing Duck ( ,Der Schrecken, der die Nacht durchflattert’) zusammenfasst — und uns dafür einige
magische Momente schenkt. Unbeschreiblich die sanfte Spannung, die in der Luft
liegt, wenn man von einer Anhöhe auf ein im Schatten eines Abends dösendes Dorf
blickt, in dessen Gassen die Menschen umherlaufen wie
Ameisen. Und man weiß, dass man in einer Stunde ebenfalls diese Gassen
entlanglaufen wird, eine Ameise für privilegierte Beobachter. Anmaßend zu
meinen, man könne die Atmosphäre des gegenseitigen Respekts, des selbstverständlichen
Teilens, die den Jakobsweg prägt, in diesen Zeilen weiterreichen. Unmöglich,
den würzigen Duft eines blühenden Lavendelfelds, das Geräusch des Windes, der
durch ein Kornfeld streicht, das Flimmern der Luft an einem heißen Nachmittag,
ein Meter über dem Boden, und das Lächeln zweier Pilgeraugen im Staub der
Meseta mitzuteilen. Der Jakobsweg enthält mehr, als Worte nach außen tragen
können.
Die Stimmung auf dem Jakobsweg ist
unbeschreiblich. Es ist keine Attraktion, die man konsumiert. Es ist keine
Sensation, die man erlebt. Es ist das Leben.
Nachwort
Camino de Santiago
Die Legende des
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