2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
kein Ende mehr zu nehmen. Der Himmel ist
schimmelig geworden, grauweiß, er presst sich an uns und betatscht uns mit
seinen gierigen feuchten Händen. An diesem Morgen erlebe ich zum ersten Mal
seit meinem Aufbruch vom Bodensee, was vielleicht auch zum Jakobsweg gehört,
ja, was das Erleben dieses Pilgerwegs vielleicht erst vollständig macht: Zum
ersten Mal, seit ich unterwegs bin, habe ich Lust, den Weg abzubrechen. Ja, ich
will, dass es vorbei ist, ich habe keine Lust, durch den galizischen Matsch zu
laufen und mich von den aufdringlichen Regenwolken befummeln zu lassen, ich
will in Santiago sein oder, noch besser, bereits an der galizischen Westküste,
ich will es hinter mich gebracht haben. Grummelnd ziehe ich mit großen
Schritten los und lasse Marc hinter mir; ich will diesen Höhenzug so schnell
wie möglich hinter mir wissen.
Die Legende des heiligen Grals in
Galizien
Selbst für galizische Verhältnisse war
dieser Winter streng, O Cebreiro durch dichtes Schneetreiben von der Außenwelt
abgeschnitten. Dennoch machte sich an diesem Morgen ein frommer Bauer aus einer
der Talsenken auf den mühevollen Weg hinauf Zur Kirche, wo die Messe
stattfinden sollte. Ein junger Mönch aus Aurillac war
mit dieser Aufgabe betraut und der Bauer war heute sein einziger Zuhörer. „Was
für eine Verschwendung“, dachte der Mönch, der sich in diesem rauen Bergdorf
unwohl fühlte, „die Messe zu halten für einen einzigen Zuhörer, noch dazu einen
zerlumpten Bauern!“. Lustlos begann er mit der Zeremonie, als er plötzlich
ungläubig auf die Hostie vor ihm starrte. Vor seinen Augen verwandelte sie sich
in rohes Fleisch; im Kelch wurde der Wein zt * Blut,
das aufschäumte und über den Rand floss. Die Kunde vom eucharisti-schen Wunder war Wasser auf die Mühlen des Gralsmythos. Der Kelch nimmt heute einen
Ehrenplatz in der Kirche von O Cebreiro ein, und die Gebeine des Bauern und des
Mönchs sind in der , Capilla del Santo Milagro ’, der Kapelle des heiligen Wunders,
beigesetzt.
Schlecht gelaunt setze ich meinen Weg
umso entschlossener fort. Zum Glück treffe ich nach knapp zwei Stunden auf zwei
dick eingepackte Anti-Regen-Pakete, die sich beim Näherkommen als Anne und
Pascal entpuppen. Wie ich grummeln die beiden etwas vom
,pausenlos schlechten Wetter’ und den ,falschen Versprechungen der
spanischen Tourismusindustrie’, doch irgendwie heben sich unsere schlechten
Stimmungen gegenseitig auf, und als wir in Sarria ankommen, hat sich der
Regenguss bereits in einen leichten Niesel verwandelt. Wir stürzen in den ersten geöffneten Supermarkt; dann erwartet uns
eine rustikale, aber trotzdem sehr erholsame Nacht in der örtlichen Turnhalle,
die extra für uns Pilger mit Duschgelegenheiten und Toiletten ausgestattet
worden ist.
Destination Santiago
Die verbleibenden 112 Kilometer bis
Santiago legen wir in zwei Tagen zurück. In der malerisch an der Biegung eines
Flusses gelegenen Stadt Portomarín essen wir zu Mittag; mittlerweile ist
auch Marc wieder zu uns gestoßen. Unsere letzte Nacht vor Santiago verbringen
wir in einer leer stehenden Pilgerhütte am Wegrand; in der Nähe bellt die ganze
Zeit ein Hund. Am nächsten Morgen marschieren wir durch dichte Frühnebelfelder
hinauf auf den Monte do Gozo, der letzten Anhebung vor dem galizischen
Wallfahrtsort. Zu Ehren des Papstes wurde hier ein Denkmal errichtet, direkt
darunter befindet sich eine der größten Pilgerherbergen des Jakobswegs. Auf dem
Monte do Gozo herrscht fast immer emsiges Treiben: P ilg er zu Fuß, per
Fahrrad und zu Pferd kommen und gehen, und ein ständiges Gemurmel in den
unterschiedlichsten Sprachen erfüllt die Luft. Im Sommer finden hier
Freikonzerte und rummelartige Veranstaltungen statt. Marc entscheidet sich, die
Nacht in der Jugendherberge des Monte do Gozo zu verbringen, während wir ,Neulinge’ des Jakobswegs es kaum erwarten können,
endlich in der Stadt zu sein. Den ganzen Tag lang habe ich einen Drang in mir
gespürt, endlich an meinem großen Ziel anzukommen. Destination Santiago. Die
Stadt selbst sieht man erst, wenn man bereits fast an den ersten Häusern
angekommen ist. Und dann, pünktlich mit einem Sonnenuntergang, der unsere vor
Anstrengung und Begeisterung rot gewordenen Gesichter nochmals hervorhebt,
stehen Anne, Pascal und ich vor dem Ortschild, auf dem der Name steht, den ich
seit meinem Aufbruch vom Bodensee Tausend Mal gelesen, Tausend Mal gehört habe:
Wir sind angekommen in Santiago de
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