2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
hindurch
herumschlagen. Es muss mit einem schelmischen Augenzwinkern gewesen sein, als
er neben uns einfach gestrickte, mit klaren Vorstellungen ausgestattete
Zeitgenossen ein Wesen auf die Erde warf, dessen wundervoll subtiles,
hochkomplex verzweigtes Gefühlsleben in schreiendem Gegensatz zu unserer
simplen Geradlinigkeit steht, und bei dem keiner, am allerwenigsten es selbst,
sagen kann, was es eigentlich will und was nicht, da sich eben dies alle paar
Minuten mit einer Radikalität ändert, die uns zumeist fassungslos zurücklässt.
Man könnte schon fast gottesfürchtig werden, wenn man bedenkt, mit welch perfekter
Präzision Mann und Frau aneinander vorbei konstruiert sind: aufeinander
angewiesen, aber vollständig unfähig, einander zu begreifen. Wie langweilig
wäre das Leben ohne den täglichen Zündstoff, der aus den vergeblichen Versuchen
entsteht, einander näher zu kommen! Fernsehsender würden eingehen, Magazine
müssten Konkurs anmelden, und die Menschen würden in den Bars sitzen und
wüssten nicht, was sie der besten Freundin oder dem besten Freund sagen sollen.
Das alles lässt nur den Schluss zu, dass gerade die vollkommene
Unverständlichkeit der jeweils anderen Art unser Glück ist, und wie landläufig
bekannt haben insbesondere Frauen die Segnungen erkannt, die in der Kunst, sich
darüber zu beschweren, stecken. Sie beschweren sich über Männer, Handlungen und
Motive, über zu viel und zu wenig Arbeit und über zu viel und zu wenig
Beachtung sie beschweren sich mit Blicken, Gesten und vor allem mit Worten,
geschienen, abgehackten, vor Wut zitternden, gehauchten, geflüsterten, in
echten Tränen erstickten, mit künstlichen Tränen garnierten Worten. Worte, die
über uns kommen wie ein Heuschreckenschwarm über ein Getreidefeld, eine
gründliche flächendeckende Zerstörung. Worte aber auch, die von den logisch
hergeleiteten Entgegnungen Marcs zurückgeschmettert wurden, return to sender , oder die in den
verwinkelten Abgründen seines wortkargen Wesens verschwanden wie in einem
schwarzen Loch.
O Cebreiro ist ein Zufall
Zusammen mit Marc komme ich kurz nach
Sonnenuntergang in dem sagenumwobenen Bergdorf O Cebreiro, der ersten
Jakobsweg-Station in Galizien, an. O Cebreiro ist ein Zufall, ein paar zusammen
gewürfelte Häuser aus der Keltenzeit, spektakulär in die Mulde eines mit
Felsbrocken überzogenen Höhengrats gelegt. Links und rechts fällt der Blick
Hunderte von Metern die zerklüfteten Steilhänge hinab, und die Aufwinde fallen
von allen Seiten über die Häuser her. Galizien begrüßt uns mit all seiner
berüchtigten Rauheit: Horizontal treibt der Sturm den Regen durch das Dorf, aus
Hohlräumen pfeift und heult es wie eine Schar junger Hunde, und die Temperatur
nähert sich hier auf 1.200 Metern Höhe dem Gefrierpunkt. Auf die Frage, wo wir
übernachten können, nickt der Herbergsbesitzer vier großen Armeezelten zu, die
genau am Rand eines Abgrunds stehen, und murmelt eine Entschuldigung, die wir
erst begreifen, als wir durch den Eingang in das erste Zelt blicken: Unsere
heutige Unterkunft ist ein Stofffetzen, der teilweise nicht einmal bis auf die
Erde hinunterreicht! Von zwei Seiten kriecht Feuchtigkeit in das Zelt, und es
ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich der gesamte Untergrund mit Wasser
voll gesaugt haben wird. Auf diese ungemütliche Situation reagieren wir mit
zwei Gegenmaßnahmen. Erstens versuchen wir, die vier Wände des Zeltes so gut es
geht mit Steinen auf dem Boden zu halten, um zu verhindern, dass weitere
Feuchtigkeit ins Innere vordringt. Und zweitens raunt mir Marc nach dieser
Arbeit zu, dass wir die Nacht wohl nur heil überstehen werden, wenn wir ein
bisschen beschwipst sind. Also gehen wir hinunter in das Dorf, um uns im
örtlichen Gasthof gewissenhaft auf die unerfreuliche Nacht vorzubereiten. Dann
kuscheln wir uns in Pullover und Regenjacke in unsere Schlafsäcke. Gegen vier
Uhr morgens hat der Sturm unsere Steinvorrichtung überwunden und wirft die
Zeltplane so ungestüm umher, dass ich manchmal innerhalb und manchmal außerhalb
des Zeltes liege, je nach Windrichtung, aber das bekomme ich nur halb mit, da
unsere zweite Taktik vorzüglich wirkt. Erst am nächsten Morgen werden wir uns
der ganzen Kraft der Elemente bewusst. Meine Sachen Hegen verstreut innerhalb
und außerhalb des Zeltes, mein Schlafsack ist völlig durchnässt, und selbst
nach Sonnenaufgang zeigt Marcs Thermometer 1°C an. In der Nacht hat es
pausenlos geregnet und es scheint
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