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254 - Das Nest

254 - Das Nest

Titel: 254 - Das Nest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stern
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folgte der Taratze in einen langen Gang, der mit Ziegelsteinen gedeckt war. Nach wenigen hundert Metern erreichten sie einen hohen Raum aus Ziegeln, in dem der Eluu bereits auf sie wartete. Das Tier musste über eine Abkürzung in die Halle geflattert sein. Jetzt hockte es auf einem hohen Baumstumpf, den es wohl selbst hier herunter geschafft hatte. Das Abdichtungsmaterial und die vielen Tannenäste wiesen darauf hin, dass der Eluu hier sein Nest hatte… und es sich mit jemandem teilte.
    Mitten in der ausgepolsterten Halle war ein Podest aus mehreren Tischen aufgebaut worden. Lupa- und Gerulfelle lagen darauf. Auf ihnen thronte Traysi in sitzender Haltung. Ihr Gesicht lag im Schatten.
    »Rulfan«, begrüßte sie ihn mit ihrer unverwechselbaren Stimme. »Schön, dich wieder zu sehen.«
    Rulfan trat näher. Durch ein großes Loch in der Decke hinter dem Eluu fiel schwaches Licht in die unterirdische Halle. Seine Augen gewöhnten sich allmählich daran. Er schluckte. Je mehr er von Traysis Gesicht sah, desto mehr dauerte sie ihn. Bei ihrem letzten Aufeinandertreffen hatte die Frau mit dem sinnlichen Körper eine lederne Halbmaske über dem Gesicht getragen. Diese Maske war nun fort. Drei wulstige Narben liefen über ihr Antlitz. Ihr rechtes Auge war blind, links klaffte eine leere Augenhöhle. Ihre rechte Gesichtshälfte sah vollkommen zerstört aus.
    »Was ist dir geschehen?«, fragte Rulfan heiser.
    Er sah, wie sie unter seinen mitfühlenden Worten zusammenzuckte, wie ein Mensch, der Mitleid nicht kennt. Gleichzeitig wusste er, dass er Traysi nicht unterschätzen durfte. Er wusste nicht, ob sie Freunde oder Feinde waren, und in diesem Fall war es besser, von Letzterem auszugehen. Das war die Maxime seiner Welt: Erwarte das Schlimmste, unterschätze niemals einen Feind und sei auf alles gefasst. Nur so konnte man mit viel Glück ein paar Jahre überleben.
    »Ich…« Traysi hielt inne. Rulfan sah, dass der Eluu hinter ihr auf dem Baumstumpf den Kopf drehte. Seine gelben Augen blickten in Rulfans Richtung.
    Die Lordhexe hatte ihm ihr Gesicht zugewandt.
    »Was willst du hier, Rulfan? Bist du gekommen, um mir Medizin zu bringen?«
    Rulfan schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein. Der Bunker wurde bereits leer geräumt, und er stand unter Wasser. Es gibt nicht mehr viel, was man dort noch finden kann.«
    »Warum hast du dann nach mir gesucht?«
    Woher wollte sie wissen, dass er nach ihr gesucht hatte? Las sie in seinen Gedanken?
    »In Hrrneys Auftrag. Er hält meine Lupa gefangen und schickt mich, um zu fragen, was er tun kann, damit du ihm vergibst.«
    Traysi lachte schrill auf. Es klang unmenschlich. Wahnsinnig. Sie klatschte in die Hände wie ein kleines Kind.
    »Ja, Honey will wieder lieb sein! Will die beste Taratze vom Rudel sein, für seine Göttin, ja!«
    Rulfan ging unbehaglich ein paar Schritte zurück. Traysis Kopf folgte der Bewegung, als könne sie ihn sehen.
    Sie muss meine Schritte auf dem Steinboden hören , dachte der Albino schaudernd.
    »Er hat Angst vor dir und deinem Eluu«, sagte Rulfan, in der Hoffnung, dass sie genau das hören wollte. »Er will Frieden zwischen euch schließen.«
    »Er hat mich nicht mehr gewollt!«, zischte Traysi. »Mich! Seine Göttin!« Sie sprang vom Tisch mit den Fellen hinunter und ging auf Rulfan zu. »Er fand mich hässlich wegen meinem Gesicht! Sag, Rulfan: Würdest du eine Frau hässlich finden wegen einer Narbe?«
    Rulfan schloss die Augen. Traysi trat auf ihn zu. Sie hielt seine Schultern fest. Mehr als ihr Wahnsinn ängstigte ihn das Bild von Lay, das vor ihm aufstieg. Auch Lay hatte eine Narbe davongetragen… die er ihr zugefügt hatte, als er noch glaubte, sie wären Feinde. Nun war Lay tot. Ermordet von Daa'tan, dem irrsinnigen Sohn seines Blutsbruders Maddrax.
    »Nein«, sagte er heiser. Es klang so ehrlich, dass Traysi zurückschreckte. Mit dieser Antwort hatte sie anscheinend nicht gerechnet. Sie ging langsam im Raum auf und ab.
    Rulfan bemerkte die Taratze, die am Ende des Tunnels - weit weg vom Eluu - auf dem Boden kniete. Befahl Traysi auch das? Hatten die Doppelsicht und der Schmerz sie endgültig zu einer Rachegöttin werden lassen?
    Die Lordhexe kehrte zu ihrem Lager zurück und setzte sich. Sie hielt sich den Kopf. Vermutlich hatte sie Schmerzen.
    »Sag Honey, dass ich sehr verärgert bin.«
    »Das weiß er bereits«, entgegnete Rulfan ruhig.
    Traysi kicherte. »Ja, ja. Die vielen toten Taratzen. Es ist so leicht, den Eluu zu lenken. So leicht.« Sie

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