2574 - Das Lied der Vatrox
verließen sie immer mehr. Ihre
Schwestern schienen alles aus ihr zu saugen.
Vor Lucbas Augen flimmerte es, und sie hörte nur noch von fern, wie die Frauen erneut zu
singen anfingen. Zuerst zögernd, eine gab ein Stichwort, das von einer anderen aufgenommen wurde,
und so ging es immer weiter, bis sie zur Wiederholung gelangten, entdeckten, dass das Lied
vollendet war, und dann sangen sie im Chor.
»Mit jedem. Strahl der Sonne Vatar
wird Vat neu beglückt.
Mit jedem Tod wächst Vamu heran.
Haltet eure Sinne beisammen und spürt:
Vamu ist mit uns.
Lebet in großer Freude
und in Erwartung des neuen Erwachens.
Die Ahnen sind mit uns.
Vatar macht uns unsterblich:
In Vamu werden wir eins sein.
Lauschet und wachet der Kraft
mit allen sechs Sinnen.
Träumt das eine Wir!
Erschaffet in Ehrfurcht aus tiefem Inneren: Vamu ist unser Werk!«
Der Schall des Gesangs musste über ganz Vamunam erklingen, und seine Gewalt zerriss Lucba
Ovichats Herz.
Sie haben soeben das Lied der Vatrox geschaffen, drang es in ihre flaumweich
gleitenden, erlöschenden Gedanken.
»Wir lieben dich, Lucba Ovichat!«, schrien die Frauen. »Unsere Erlöserin, Schöpferin der
Unsterblichkeit! Teile dich uns mit, öffne dich uns, schenk dich uns!«
Lucba Ovichat hatte keine Kraft mehr, zu widersprechen, ihre Schwestern über den tragischen
Irrtum aufzuklären. Sie verstanden nicht, würden niemals verstehen.
»Wie wunderbar muss Liebe sein«, hatte Usgan Faahr einst zu ihr gesagt.
Sie lieben mich zu Tode, dachte die Historikerin verzweifelt. Ihre langen Finger
krallten sich in das Gewand einer Schwester, und sie bat mit brüchiger Stimme um Gnade.
Doch es wurde ja als Gnade empfunden, die sie spendete.
Die Schwestern meinten das mit dem Öffnen und Teilen offenbar wörtlich. Immer mehr in Raserei
geratend, rissen und zerrten sie an Lucba, zerfetzten ihr Gewand, krallten sich in ihre Haut.
Mit aufgerissenen Mündern und zu Klauen entstellten Händen stürzten sie sich auf die Frau, die
ihnen die Stimmen der Vergangenheit gebracht hatte, baten sie um Erlösung, um Teilung, um die
Wiederkehr der Toten, um Nachrichten längst Verstorbener.
Die Masse der beständig nachrückenden Leiber riss Lucba Ovichat schließlich um, sie wurde
aufgefangen und hochgezerrt, herumgereicht, bevor sie endgültig den Boden unter den Füßen verlor
und unter dem Ansturm der rasend gewordenen Menge, die alle ihren Teil von Lucba Ovichat
verlangten, niederging.
Erdrückt, niedergetrampelt, zerquetscht im rhythmischen Stampfen zum Lied der Vatrox.
Welche Ironie, dachte Lucba, während der Schmerz wie eine Woge über ihr
zusammenschlug.
Auch ich will empfangen ...
ENDE
Die Geschichte der Lucba Ovichat erweist sich als Fundgrube des Wissens über die
Vatrox, und sie ist noch lange nicht beendet. Susan Schwartz berichtet auch im folgenden Roman
vom aufregenden Leben der Vatrox. PR 2575 erscheint nächste Woche überall im
Zeitschriftenhandel unter folgendem Titel:
FLUCHT NACH ANTHURESTA
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