2574 - Das Lied der Vatrox
die Reise nach draußen. Bald traf es auf ein anderes Netz, und die beiden verknüpften sich
miteinander, dehnten sich aus und suchten weiter.
So ging es fort und fort, und Lucba wurde von einer Woge Glücksgefühl und Wärme durchströmt.
Es war kein Wunder, dass die Frauen voller Vorfreude auf diesen Tag hinarbeiteten, der nur alle
neunzig Jahre stattfinden konnte. Es war das größte, wunderbarste Erlebnis, das überhaupt
vorstellbar war.
Planetenweit verbanden sich die Geister der Frauen miteinander, bis ganz Vat von einem
mächtigen, weiß leuchtenden, mentalen Netz umgeben war. Jede einzelne Frau war mit jeder Frau
verbunden, spürte ihre Gedanken, ihr Sein, tauschte sich aus.
In diesem Moment waren sie wahrhaft alle eins, Schwestern, einander inniger verbunden,
als eine Mutter es mit ihrem im Bauch heranwachsenden Kind sein konnte.
Es war berauschend, der erhabenste Augenblick des ganzen Volkes. Die freigesetzten Energien
mussten selbst von den schwach begabten Männern empfangen werden können, die zwar nicht am Netz
teilhaben konnten, aber wenigstens einen Eindruck, ein Gefühl dafür bekamen, was die Frauen
erlebten. Diesen Eindruck gaben sie gewiss weiter, sodass auch die tauben Männer nicht
ausgeschlossen waren, einschließlich der Kinder, die noch zu jung für die Verbindungen waren.
Hunderttausende Kleinkreise verschmolzen zu einem einzigen planetenweiten Großkreis.
Gemeinsam tasteten sie sich dann hinaus, um zu lauschen und zu suchen, nach dem, was dort
draußen sein mochte.
Von Generation zu Generation, über die Jahrtausende hinweg, hatten sich die mentalen
Fähigkeiten der Frauen weiterentwickelt, waren stärker geworden. Eines Tages musste das
Geheimnis des Hintergrundrauschens gelöst werden.
*
Lucba spürte es sofort. Die mentale Präsenz. Das, was dort draußen war und vielleicht
seit Äonen auf Antwort wartete.
Die Präsenz war in dem Rauschen, wahrscheinlich schon immer da gewesen. Vielleicht war das
Rauschen sein eigenes Echo. Aber wie konnte ihr Ruf verständlich gemacht werden? War der Ton zu
schnell oder zu langsam? Worauf mussten die Frauen sich einstellen?
Es ist schon einmal gelungen. Wir dürfen keine Angst davor haben. Was auch immer
es ist, es will uns nichts Böses.
Lucba wurde nicht so richtig bewusst, was sie tat, sie handelte mehr instinktiv oder aus ihrer
Erfahrung heraus, was ihr als logische Konsequenz erschien.
Sie öffnete ihren Geist weit, bündelte ihre Kräfte, versuchte sich auf die Schwingungen der
Präsenz einzustellen.
Bald schlössen sich ihre Kreisschwestern an und dann mehr und immer mehr, bis das gesamte Netz
in einem neuen Rhythmus schwang.
Wer bist du?
Der Großkreis, das Eins, streckte seine Fühler weit hinaus, stellte sich auf die
Frequenzen ein, entschlüsselte das, was bisher stets nur als chaotischer Klangbrei empfunden
werden konnte, und zergliederte es in seine Einzelteile.
Und übrig blieben verständliche Sequenzen, einhergehend mit einem Schwall an positiven
Emotionen.
Wir sind es! Wir sind bei euch!
Dieselben Worte, nur viel klarer und intensiver. Der Kontakt riss auch nicht ab, sondern
verstärkte sich. Das andere klammerte sich nun am Netz fest, das durch die Verbindung von
Milliarden Individuen stark genug war, es zu halten.
Und der Großkreis ließ zu, dass es seine Fäden erweiterte und ein zweites Netz bildete, das
sich mit den anderen fest verschlang und verknüpfte.
Wir sind es! Wir sind bei euch! Wir sind ...
Aber da wussten es schon alle.
*
Die Erkenntnis löste Chaos aus. Auf den Großkreis hatte es zunächst keinen Einfluss, er konnte
sich nicht so schnell auflösen. Dennoch wurden beunruhigende Schwingungen spürbar.
Lucba wurde mit einem Ruck aus ihrer Trance gerissen, und sie sah erschrocken, dass Zeira
Conobim zusammengebrochen war und von Krämpfen geschüttelt auf ihrer Matte lag.
»Hört nicht auf!«, rief eine Frau. »Haltet den Kreis aufrecht, wir dürfen jetzt nicht
nachgeben! Dies ist eine einmalige Gelegenheit, die sich nie wieder ergeben wird! Wenn wir jetzt
abbrechen, müssen wir ganz von vorn beginnen.«
Sie hatte recht. Und Lucba brauchte sich nur leicht zu konzentrieren, um wieder die Verbindung
aufnehmen zu können.
Und da waren sie alle, jetzt deutlich erkennbar und verständlich, Millionen und
Milliarden.
Wir haben euch nie verlassen.
Eine Erkenntnis, die so wunderbar und der größte Schock zugleich war.
Noch immer
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