2575 - Flucht nach Anthuresta
einfach das Gehör abgeschaltet.
Geschlossen, genau wie die Augenlider.
Wie lange vermochte sie diesen Zustand durchzuhalten? Vor allem, da sie nicht nur jenseits der
Finsternis, sondern auch jenseits des Schmerzes war und immer mehr Gedanken den Raum einnahmen?
Den Rest ihres Lebens, das den Worten der Stimme nach Unsterblichkeit bedeutete?
»Eines Tages wirst du aufwachen müssen«, drang die verhasste Stimme in ihren Gehörgang, den
sie nachlässigerweise für einen winzigen Moment geöffnet hatte. Oder hatte die unbekannte Stimme
sie hereingelegt?
»Es ist so«, fuhr die Stimme fort. »Deine Körperfunktionen sind inzwischen voll aktiv, du
kannst dich bewegen wie früher, vielleicht ein wenig langsam zu Beginn, doch es ist alles in
bester Ordnung. Dein Verstand arbeitet auf Hochtouren. Das wissen wir, du kannst uns nichts
vormachen, denn wir können es messen. Ich weiß, dass du mich jetzt hörst. Darüber bin ich sehr
froh, denn manchmal ... wollte ich beinahe nicht mehr daran glauben.«
Sie antwortete nicht, lauschte einfach weiter. Die Stimme hatte es endlich geschafft, ihre
volle Aufmerksamkeit zu erringen. Lag es an dem Tonfall, der sich geändert hatte? Oder daran,
dass sie diesen Zwischenzustand satt hatte?
»Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Nein ... das ist gelogen. Mir ist das bisher
nicht widerfahren. Ich denke, zum Teil kann ich es allerdings begreifen. Ich erlebe es nicht zum
ersten Mal mit. Insofern bin ich nicht ganz so unwissend, wie du glaubst.«
Nein? Wie viele außer ihr gab es denn noch?
»Aber natürlich hatten wir bisher keine solche Herausforderung, das muss ich zugeben. Insofern
ist es eine sehr große Ehre für mich, und ich möchte keinesfalls versagen.«
Aha, darauf lief es also hinaus: Erpressung! Womit konnte eine Tote erpresst werden? Mit dem
Leben? Darin war sie bereits gefangen. Sie schwieg und hörte zu.
»Du bist sehr klug. Nicht nur in hohem Maße intelligent, sondern du weißt deinen Verstand auch
auf kluge Weise einzusetzen. Ich bleibe weiterhin hier sitzen und werde dir dabei zusehen, wie du
dich gegen das Leben wehrst, aber nicht in der Lage bist zu sterben. Wenn das einen
erstrebenswerten Zustand für dich darstellt, solltest du ihn beibehalten und nur mit dir und
deinen Gedanken vereint bleiben. Niemand wird je erfahren, welche Erkenntnisse du erhältst.«
Wie kam die Stimme darauf, dass ihr daran gelegen wäre?
»Allerdings kam es dir zu deinen ersten Lebzeiten genau darauf an: deine Erkenntnisse mit
anderen zu teilen und Beweise für deine Theorien und Schlussfolgerungen zu liefern. Du hast
gewusst, dass du, wenn dir dein Vorhaben gelingt, alles revolutionieren könntest - und genau das
ist dir gelungen.«
Schweigen.
Sie dachte verblüfft nach und beging den zweiten Fehler - ein Türchen in die Vergangenheit
öffnete sich und ließ ein winziges bisschen Erinnerung durch.
Bevor sie es ihrem Mund verbieten konnte, formte er ein Wort: »Gelungen?«
»Ja, ja!« Die Stimme bebte erfreut. Wahrscheinlich, weil sie zum ersten Mal seit langer Zeit
reagierte und sogar sprach. »Es war wie eine Initialzündung! Das Größte, was unserem Volk je
widerfahren ist!«
»Darüber ... muss ich nachdenken«, sagte sie zögernd.
»Nein, du musst viel mehr tun: Erinnere dich! Lass es zu, wieder du selbst zu sein. Deshalb
werde ich dich jetzt allein lassen. Morgen früh komme ich wieder, und dann ... solltest du eine
Entscheidung getroffen haben. Können wir uns darauf einigen?«
Welche Wahl hatte sie denn? Das Türchen war bereits aufgestoßen. Sie war in einem Körper
gefangen. Vielleicht gab es einen anderen Weg, wieder in die Finsternis zurückzukehren; so
jedenfalls funktionierte es nicht. Sie war nicht mehr als eine Gefangene im Zwischensein. Endlich
war ihre Neugierde geweckt, denn sie konnte sich nicht vorstellen, was das alles zu bedeuten
hatte.
»Ja, darauf können wir uns einigen.«
»Schön. Das ist perfekt!«
Dann war sie allein.
*
Und sie dachte nach. Stunde um Stunde, das begriff sie, denn nun kehrte ihr Zeitgefühl
zurück.
Alles kehrte zurück.
Sie war dem Tod ferner denn je. Die vertraute Finsternis wich einer leeren Dunkelheit, die
gefüllt werden wollte. Mit Leben. Allmählich freundete sie sich mit dem Gedanken an, dass
sie die Seite gewechselt hatte. Vielleicht würde es nicht so schlecht sein. Eine neue Erfahrung.
Und die Finsternis würde immer warten, sie konnte
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