2575 - Flucht nach Anthuresta
es nie verlieren. Nicht für immer.
Sie öffnete alle Türen und ließ die Erinnerungen herein.
Zuerst kamen sie nur sehr vereinzelt, zögernd, ohne rechte Beziehung oder Verbindung
zueinander. Die Impressionen rauschten wie ein öliger Strom durch ihren
Verstand, und sie war beschäftigt, die Bilder und Fragmente zu sortieren und richtig
einzuordnen. Dabei entdeckte sie Lücken, doch diese konnten vielleicht später gefüllt werden.
So viele Erinnerungen. Kein Wunder, dass sie davon Kopfschmerzen bekam.
Ihr war, als stünde sie neben sich und betrachtete ihren geöffneten Schädel, dessen obere
Schale nach hinten gekippt war. Darin fand sich ein gläsernes Gehirn, und in diesem wiederum gab
es eine Menge seltsamer Dinge, die objektiv betrachtet nicht den geringsten Sinn ergaben.
Vor allem der Begriff Vamu mit all seinen verborgenen Bedeutungen entwickelte ein sonderbares
Eigenleben.
Wozu das alles? Was kam schon am Ende dabei heraus, wenn man daran zugrunde ging? Und was half
es den Überlebenden, die ebenfalls sterben würden?
Mir ging es nie um die Unsterblichkeit. Wie haben sie es angestellt, sie zu
nutzen?
Vorsichtig griff sie in ihren Schädel, tupfte mit der Fingerkuppe das gläserne Gehirn mit dem
bunten Inhalt an, und es geriet in Bewegung, zitterte und wackelte und schüttelte alles
durcheinander.
Das fand sie überaus amüsant, und sie musste lachen. Zuerst nur im Innern, dann platzte sie
laut heraus. Das also ist die Definition von Chaos!
Nichts war mehr an seinem Platz, alles geriet in Bewegung. Die eine oder andere Erinnerung
allerdings packte die sich Erinnernde nun sehr behutsam mit den äußersten Fingerspitzen und
setzte sie an einen anderen Ort, wo sie farblich und strukturell besser passte.
Das nahm einige Zeit in Anspruch und war ermüdend. Da sie allerdings einmal damit angefangen
hatte, musste sie es zu Ende führen. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, sonst würde sie die
neuen - falschen - Verbindungen nie mehr trennen können und als lallender Idiot im
Zwischenstadium bleiben, ohne neue Chance.
Allerdings verfluchte sie sich bald, dass sie es überhaupt begonnen hatte, denn eines führte
zum anderen, bis sie der Ansicht war, dass gar nichts mehr zusammen passte und alles neu geordnet
werden müsse.
Also weiter.
Das bunte, fröhliche, unstrukturierte Durcheinander wurde von gedämpften Vielecken abgelöst,
die sich ineinander- und wie die Bruchstücke eines Gesamtbildes zusammenfügten. Und je mehr
zusammenpasste, desto mehr verloren die Farben an Kraft, und Grauheit setzte ein. Wohlgeordnete,
saubere Symmetrie, perfekte geometrische Formen, vollkommene Schattierungen.
Mit weißen Lücken dazwischen. Aber das war vielleicht der Preis für die Wiedererweckung. Ganz
ohne Verlust konnte so etwas wohl nicht stattfinden. Egal, wohin man ging, immer ging etwas
verloren, blieb etwas irgendwo zurück. Nie kam man so zurück, wie man fortgegangen war.
Längst war das Gelächter in ihr verstummt. Nun war ihr alles klar und deutlich und
vertraut.
Trotzdem war sie nicht sicher, ob sie das Richtige getan hatte.
*
Das Zimmer war hell.
Ein Fenster gegenüber dem Bett, in dem sie lag.
Ein funktionales Bett für ein lange währendes Krankenlager.
Links und rechts des Bettes standen viele Geräte, an die sie zum Teil angeschlossen war. Auf
einer frei schwebenden Bildfläche sah sie das gescannte Abbild ihres Körpers, holografische
Anzeigen gaben Auskunft über ihr Kreislaufsystem, Blut- und Stoffwechselanalysen und natürlich
ihre Hirnaktivität. Auch der Antigravprojektor für Schwebelage fehlte nicht, und sie erinnerte
sich, dass er eingesetzt worden war, wenn sie kollabierte.
Das Fenster zeigte nichts weiter als blassblauen Himmel und bot keinerlei Aufschluss über das,
was draußen vorging.
Das Zimmer selbst wies keinerlei Dekoration oder weitere Einrichtung auf, abgesehen von einem
unbequem aussehenden Stuhl neben dem Bett. Ihre Optik sollte wohl nicht gleich überfordert
werden, wenn sie die Augen zum ersten Mal öffnete.
Zumindest war das die freundliche Erklärung. Die Wahrheit aber war vermutlich, dass ein
Patient, der sowieso nicht auf Dauer blieb, keinen Komfort benötigte. Ein Patient war eine
mangelhaft funktionierende organische Maschine, die möglichst schnell repariert werden musste. Zu
einem intelligenten, denkenden, fühlenden Wesen wurde der Patient erst, sobald die Funktionen
vollständig
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