259 - Die Stunde der Wahrheit
das verlorene Wissen nun zurückbringen! Er selbst war einst auf dem Mars geboren worden und hatte an der Entwicklung jenes Strahles mitgearbeitet, den die Hydree benutzten, um von ihrem sterbenden Planeten zu fliehen.
Der Mars hatte damals, vor dreieinhalb Milliarden Jahren, sein Wasser und seine Atmosphäre verloren. Die Erde war auf dem besten Wege gewesen, einen optimalen Lebensraum zu entwickeln, wenn auch erst in ferner Zukunft.
Mit dem Zeitstrahl war es den Hydree möglich gewesen, nicht nur die ungeheure Entfernung zur Erde zu überwinden, sondern gleichsam in die Zukunft zu reisen. So waren sie in einem gewaltigen Exodus vom Rotgrund aufgebrochen. Zumindest zwei Drittel von ihnen. Eine unterentwickelte Bevölkerungsschicht, die Patrydree, hatte man gnadenlos zurückgelassen und dem Tod überantwortet. Auch dies eine Wahrheit, die nur zu gern vergessen wurde. Wie auch die zahlreichen Bruderkriege, die hier auf Ork'huz , wie man damals die Erde nannte, ausgefochten worden waren…
Quart'ol wurde schwindelig, wenn er darüber nachdachte. Und nicht weniger turbulent war Gilam'eshs spezielles Schicksal. Auf dem Mars war das Bewusstsein eines Menschen über die Zeiten hinweg in ihn gefahren [1] : der Geist von Matthew Drax, mit dem auch Quart'ol schon einen Körper geteilt hatte. Erst als Gilam'esh während des Exodus von einem Patrydree getötet wurde, war Matt in seinen eigenen Körper zurückgekehrt, während sich Gilam'eshs Geist in den Zeitstrahl retten konnte. Dort war er Jahrmilliarden später noch einmal Matthew Drax begegnet und hatte die Gelegenheit genutzt, um in einen von dessen Begleitern zu fahren und aus dem Strahl zu entkommen. Dieser Yann Haggard, ein todkranker Seher, brachte ihn dann nach Gilam'esh'gad - und damit auch zu Quart'ol.
Der hydritische Wissenschaftler hatte sich in der geheimen Stadt im Marianengraben vor dem Gilam'esh-Bund verborgen. Die Geheimorganisation, aus dreizehn Geistwanderern bestehend, sorgte seit Jahrtausenden dafür, dass unangenehme Wahrheiten dem Vergessen anheim fielen. Da Quart'ol von Matthew Drax alles über die Hydree, deren Herkunft und Verbrechen wusste, trachtete der Bund nach seinem Leben.
Aber jetzt hatte sich alles verändert. Gilam'esh war in Gilam'esh'gad und mittlerweile in einen Klonkörper umgezogen, während Yanns Hirntumor behandelt wurde. Der uralte Mythos, der das Leben der Hydriten mit seinen Lehren und Gleichnissen schon Jahrzehntausende vor Ei'dons Einigung geprägt und beeinflusst hatte, besaß nun ein Gesicht. Allein das erschien Quart'ol noch immer wie ein Traum. Es war ein Traum, den er schützen wollte. Deshalb war er vor über vier Wochen nach Hykton aufgebrochen.
Ich muss Verstärkung nach Gilam'esh'gad holen , sagte er sich. Am besten jemanden aus dem Neun-Städte-Bund, der in der Allatis-Föderation etwas zu sagen hat. Irgendwen, der mich und auch Gilam'esh vor den Umtrieben des Bundes beschützen kann.
Quart'ol lief ein Schauer über den Rücken, wenn er daran dachte, dass der Bund zuerst erfahren könnte, dass Gilam'esh in der Stadt war. Die selbstgerechten Hydriten unter ihrem Meister Skorm'ak würden nicht zurückschrecken, den Propheten umzubringen. Sie sahen sich als die Bewahrer der einzigen Wahrheit - einer manipulierten, geschönten Wahrheit, in der die Hydriten die friedliebenden Herren der Erde und die Menschen nur halbe Tiere waren.
Quart'ol sah zu einem blassblauen Kuppelgebäude hinüber, in dem mehrere Wissenschaftler arbeiteten. Es lag nur wenige Schwimmzüge vom gewaltigen Hydrosseum des Rates entfernt. Der Hydrit erinnerte sich gut an das eindrucksvolle Hydrosseum und bedauerte, ihm keinen Besuch abstatten zu können. Gerne hätte er das lebendige Muschelmosaik in der Eingangshalle berührt, das die Geschichte der Hydriten darstellte und mental vermittelte. Oder besser: einen Teil dieser Geschichte. Auch das Laborgebäude aus rot schimmernden Korallen vor ihm war ihm bestens bekannt. Er war hier einst ebenso ein und aus geschwommen wie in der Wissenschaftsabteilung des Hydrosseums. So viel war inzwischen geschehen. Aber für lange Betrachtungen und Rückbesinnungen hatte er keine Zeit.
Ich muss jemanden finden, dem ich vertrauen kann.
Quart'ol hatte eine ganz bestimmte Hoffnung, was das betraf, aber bisher war er enttäuscht worden.
Er drückte sich noch tiefer in die Schatten, als er ein paar Ordnungswächter mit den traditionellen Dreizacken in den Flossenhänden vorbeischwimmen sah. An ihren Seiten hingen
Weitere Kostenlose Bücher