259 - Die Stunde der Wahrheit
schon lange als tot. Ich habe mich immer über die Umstände gewundert.«
Quart'ol sah sich im Hausinneren um. Es bestand aus einem großen Raum zum Leben und einem abgetrennten Stau- und Materialraum. Eine Schlafschale war nicht zu sehen. Vermutlich war sie wie andere Möbelstücke auch im Inneren der bionetischen Wände verborgen und konnte bei Bedarf ausgefahren werden. Ebenso wie aus dem Boden eine ganze Wand hervor schießen konnte. Der Hydrit erkannte es am dunkleren Bodengewebe. Der Blickfang des Zimmers war ein großes Zierfischbecken an der Seite. Es reichte vom Boden bis zur Decke. Dort zogen die erlesensten Kampffische ihre Bahnen. Ihre breiten Schwanzflossen schillerten in allen Farben des Regenbogens. Zahlreiche seltene Pflanzen zeigten eine prachtvolle Miniaturlandschaft. Kleine Ei'don-Statuen und ein winziges Kuppelgebäude waren auf steil aufragenden braunen Glimmersteinen zu sehen. Das Kuppelgebäude war eine maßstabgetreue Kopie des Hydrosseums.
»Bel'ar, ist es hier sicher?«
»Du klingst, als würde man dich verfolgen.«
»Vielleicht tut man das.«
»Setz dich. Du bist hier sicher.« Bel'ar wies auf eine frei schwebende bionetische Sitzschale, die mitten im Raum hing. Nur ein dünner Halter stieg hinauf bis zur hell funkelnden Decke. Sie drückte an der Wand des Korallenhauses auf ein bionetisches Eingabefeld. Sofort senkte sich eine zweite Sitzschale aus der Decke, genau dem Platz von Quart'ol gegenüber.
»Ich denke, ich habe noch etwas Algensalat da. Hast du Hunger?«
»Nein, danke. Lass uns erst reden. Je schneller ich wieder fort bin, desto sicherer ist es für dich.«
Bel'ar sah nun ernsthaft besorgt aus. »Wer verfolgt dich denn?«
»Der Gilam'esh-Bund.«
Bel'ars Augen weiteten sich. Quart'ol begann zu erzählen, wie der Bund ihn hinunter nach Gilam'esh'gad geschickt hatte in der Hoffnung, ihn dadurch loszuwerden. Er beschrieb das Bestiarium und die Gefahren, die in der Stadt und auf dem Weg dorthin gelauert hatten.
»Aber ich habe überlebt. Und ich fand in den Archiven der Stadt Beweise dafür, dass wir alle vom Mars stammen. Außerdem…«
Quart'ol überlegte, ob er von Gilam'esh erzählen sollte, dem Märtyrer, der damals für sein Volk den Weg zur Erde bereitet hatte und dafür gestorben war. Jeder Hydrit kannte seine Lehren, aber niemand wusste mehr um seine Herkunft. Für sie war er ein Prophet aus grauer Vorzeit. Einer, nach dessen Regeln sie seit Hydritengedenken lebten, ähnlich den Anhängern einer Religion. Dass sein Geist in einem Zeitstrahl überlebt hatte, war schwer zu glauben.
Nein, ich will sie nicht gleich überfordern. Außerdem ist es hier nicht sicher genug.
»Ich habe noch etwas anderes entdeckt«, fuhr Quart'ol fort. »Es leben Hydriten aus der alten Zeit in der Stadt. Gemeinsam mit Pozai'don II. und dreizehn Quan'rill-Geistern, deren Wissen eine Chronik unseres gesamten Volkes darstellt. Die wahre Chronik, ohne die Beschönigungen des Gilam'esh-Bundes.«
Bel'ars Flossenhände krampften sich um die Seitenränder der schwebenden Sitzschale. »Das ist nicht wahr!«
»Doch. Das ist ebenso wahr wie unsere Abstammung vom Mars. Und weil ich solche Dinge weiß, will der Bund mich vernichten. Sie sehen in mir eine Gefahr. Von der Wahrheit wollen sie nichts hören. Zwei Mal haben sie mich fast ermordet.«
Bel'ars Flossenkamm hatte sich hellgelb verfärbt. Ihr Gesicht sah bleicher aus als sonst. »Bei allen Meeren… Oh, Quart'ol, es tut mir so leid! Wenn ich geahnt hätte, was du durchgemacht hast… Vielleicht hätte ich dir helfen können… Oder Mer'ol…«
»Mer'ol lebt?«
»Ja, er ist nach Kolay gezogen, glaube ich. Ich traf ihn zuletzt vor einer guten Rotation.«
»Es freut mich, das zu hören. Wie ist es dir inzwischen ergangen? Arbeitest du in diesem Gebäude? In der Wissenschaftsabteilung des Städtebundes?«
»Du hast es vermutet, nicht wahr?«
»Ich habe es gehofft.«
»Ja, ich arbeite dort. Im Grunde habe ich deinen Platz eingenommen. Ich bin die wissenschaftliche Beraterin des Städtebundes. Man zählt viel auf mich.« Sie sagte es mit nüchterner Selbstüberzeugung.
Quart'ol sah sie an. Sie war noch schöner geworden. Noch selbstbewusster. Er war froh, sie auf seiner Seite zu wissen.
»Dann kannst du mir vielleicht helfen. Ich brauche dringend Unterstützung.« Er zog einen Datenkristall aus einem Säckchen an einer Schlaufe am Lendenschurz.
»Was ist das?«
»Das sind Aufzeichnungen über die Stadt. Daten, die beweisen, was ich dir
Weitere Kostenlose Bücher