265 - Das letzte Tabu
Idee?«
Sie fühlte sich erleichtert, es nicht erst umständlich erklären zu müssen. Vogler hatte offenbar intuitiv begriffen. »Genau daran dachte ich, bis…«, sie nickte zu dem Monitor mit der Nulllinie, »… bis ich das hier sah. In diesem Zustand denkt er doch nicht, oder? Er träumt nicht mal.«
»Folgt man der allgemein anerkannten Schulweisheit, hast du wahrscheinlich recht.« Vogler umfasste Aruulas rechten Oberarm. Es war ein fordernder Griff, mit dem er sie zum Kopfende von Hi'schis Behältnis lenkte. Als sie dem Drakullen das Gesicht zuwandte, ließ der Waldmann sie los. »Aber was ist schon Schulweisheit? Nichts als trockene Theorie, die oft genug widerlegt wurde.« Er lächelte plötzlich jenes herausfordernde Lächeln, das sie an ihm mochte. »Willst du wissen, wie es wirklich um Hi'schis Geisteszustand bestellt ist? Dann nutze dein Talent und lausche in ihn hinein!«
Aruula erschrak vor der eigenen Courage, obwohl sie sich insgeheim genau diesen Freischein erhofft hatte.
Ein Geräusch lenkte sie ab. Die Tür, durch die auch sie gekommen war, glitt auf. Ein Angehöriger des medizinischen Bordpersonals kam mit Schwung herein, bremste ab und bedachte Vogler mit einem Störe-ich?-Blick.
Voglers Körpersprache schien unmissverständlich zu sein, denn der ältere Marsianer drehte sofort wieder ab und murmelte etwas wie: »Komme später wieder, war nicht wichtig«.
Aruula war drauf und dran, die Störung zu nutzen, um sich zurückzuziehen. Aber Vogler hatte sie am Haken. Er zeigte auf den reptilienhaften Hi'schi. »Du würdest uns allen einen Gefallen damit tun. Auch wenn ich ihn persönlich als friedfertig einschätze, ist er doch eine fremde Lebensform und damit unberechenbar. Wenn der Verdacht besteht, dass er sogar im Kälteschlaf andere Wesen beeinflussen könnte, müssen wir das wissen.«
Aruula kämpfte mit sich. Sie hatte in letzter Zeit häufiger ihre Gabe benutzt, um in abnormale Gedankenwelten einzutauchen, was immer mit einem Risiko verbunden war. Hi'schis Geist war in seiner Fremdartigkeit gewiss nicht harmloser als der der verrückt gewordenen Queen Victoria.
»Bitte«, drang Voglers Stimme in ihr Grübeln. »Das Crewmitglied wird gleich zurückkehren, dann ist es mit Ruhe und Konzentration vorbei. Wenn du schon nicht deine eigene Neugier stillen willst, mach es für unsere Sicherheit.«
»Du solltest in die Politik gehen«, seufzte Aruula, um ihm nicht eingestehen zu müssen, dass ihr selbst daran lag, Licht ins Dunkel ihre Albtraumvision zu bringen. »Bei deinen Überredungskünsten…«
Sie blickte durch das dicke, gefrostete Glas auf das Haupt des Drakullen. Die Maserung der reptilienhaften Züge war von einer nicht-menschlichen Schönheit. Das schmale Gesicht, die Wölbung der hervortretenden Mundpartie, über der zwei strichartige Nasenlöcher lagen, und eine hohe, fast fliehende Stirn, flankiert von zwei knorpeligen Ohrmuscheln, das alles war durchaus faszinierend anzuschauen - so wie auch der Rest des sehnigen Körpers, der ab der Mitte abwärts von einem silbrig glänzenden Tuch verhüllt wurde.
Aruula seufzte, ließ sich vor dem Kryo-Sarg auf den Boden nieder, zog die Beine an und senkte ihre Stirn auf die Knie; dies war die Position, in der sie am besten lauschen konnte. Dann überwand sie ihre Scheu und senkte ihren Geist in das diffuse Etwas, das Hi'schis schwachen Geist in der Kältestarre ausmachte…
***
Am Nachmittag, wenn der versteinerte See reglos in der Hitze dalag und die Weinbäume wie erstarrt im Hof standen und die kleine marsianische Stadt sich abgekapselt hatte und niemand vor die Tür trat, dann hielt sich Herr K in seinen Gemächern auf und las in einem metallenen Buch.
Ray Bradbury, Die Mars-Chroniken
»Du musst zu einem Heiler - ich bestehe darauf!«
Selten hatte Graulicht seinen geduldigduldsamen Freund so entschlossen und energisch erlebt. Lobsang hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und sich vor ihm aufgebaut wie sein eigenes personifiziertes schlechtes Gewissen. Denn im Grunde wusste Graulicht, dass es so nicht weitergehen konnte. Seit drei Nächten hatte er kein Auge mehr zugetan. Begonnen hatte es nach dem Ausflug in Utopias Nachtleben. Er war überhaupt nicht mehr eingeschlafen. Müdigkeit und Mattigkeit waren zur Genüge da, aber zugleich auch eine Überreizung, die immer wieder dafür sorgte, dass sein Geist nicht die letzte Schwelle überschreiten konnte hin zum ersehnten Schlaf.
»Was sollte ein Heiler für mich tun?«,
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