265 - Das letzte Tabu
ihm geschehen, wenn er es nicht tat? Welken würde er wie eine Blume, keinen Schlaf mehr finden, bis die Entkräftung, bis Wahnvorstellungen und tiefste Verzweiflung sein geschundenes Herz zum Stillstand bringen würden.
Nein. So wollte er nicht aus dem Leben scheiden.
Und auch den Strahl würde er nie mehr verlassen können ohne -
Sein geistiger Schrei schien die Kabine des Jumbos in tausend Stücke zerspringen zu lassen. In seiner Einbildung stritten zwei innere Stimmen miteinander…
Du bist hoffnungslos verloren!
Nein - das Paradies steht dir offen!
Sein Denken nahm schizophrene Züge an. Aber nicht einmal der Versuch, sich geistig zu spalten und so das eigene Vorhaben vielleicht doch noch zu vereiteln, gelang. Graulicht streckte die Hände seines Geistkörpers nach der Schläferin im Flugzeugsitz aus.
Warum habe ich es nicht schon viel früher getan?, durchfuhr es ihn in dem Moment, als seine Realität mit der ihren verschmolz und sie dadurch für ihn greif- und fassbar wurde.
Die Berührung bewirkte noch mehr. Ob nur in seiner Vorstellung oder tatsächlich, war für ihn nicht zu unterscheiden, nicht in dem komplexen Hirngespinst, in dem er sich bereits rettungslos verfangen hatte. Jedoch kam es ihm so vor, als würde die Kleidung der Schläferin dort, wo er sie berührte, plötzlich täuschend echt. Nein, nicht täuschend… sie wurde echt. Wahr. Wirklich.
Graulicht verlor jedes Maß an Zurückhaltung. Seine Hand fuhr hoch und strich über das Gesicht, das sofort fleischfarben wurde.
Er war völlig außer sich. Weiter und weiter tasteten seine Finger, brachten Haar zum Leuchten, zauberten überall reale Farben hin, wo zuvor dieses seltsam Unfassbare an Mustern und Licht und Schatten regiert hatte.
Der Rausch überkam ihn noch weitaus heftiger als bei der ersten Begegnung. Und schon da war er letztlich geflohen, aus Angst vor der eigenen Courage und den möglichen Konsequenzen.
Diesmal, das schwor er sich, würde er nicht gehen. Nicht unverrichteter Dinge jedenfalls.
Seine Hände »malten« sie echt .
Aber immer wenn die Finger weiterwanderten, kehrte das Surreale zurück.
Nein, damit konnte er sich nicht zufriedengeben - und deshalb war er auch nicht gekommen.
Das Paradies - die Hölle, du Narr! - hatte seine Pforten weit für ihn geöffnet. Er musste nur noch hindurchtreten.
Graulicht beendete sein Zaudern, und sofort durchflutete ihn eine Welle der Glückseligkeit.
Er tat, was noch niemand getan hatte.
Es war seine Bestimmung, auch wenn er den dafür zu zahlenden Preis bislang nicht einmal ahnen konnte…
***
12. April 2526, Raumschiff CARTER IV
Als sie die Augen aufschlug, war der andere Marsianer wieder da. Er stand unmittelbar hinter Vogler, der neben ihr kniete, und schaute ihm über die Schulter. Offenbar hatte man ihr eine Spritze verpasst - das entsprechende Instrument befand sich noch in der Hand des Mediziners, der Aruula erwartungsvoll anblickte.
Sie blinzelte und versuchte die Unschärfe zu vertreiben, die ihre Netzhäute wie mit einem schlierigen Film überzog. Nach einer Weile sah sie wieder klar. »Was ist passiert?«
»Eigentlich«, sagte Vogler, »hatte ich gehofft, dass du es mir sagen würdest.«
»Ich bin…«
»Du bist einfach zur Seite weggesackt. Ich konnte dich gerade noch auffangen und sanft ablegen.«
Sie war überrascht. Nach ihrem Empfinden war das Lauschen völlig normal verlaufen. »Wie lange war ich ohne Bewusstsein?«
»Rund sieben Minuten.«
»Minuten?« Nun war sie vollends verblüfft.
»Was dachtest du denn?«
Schulterzuckend murmelte sie: »Weiß nicht. Es waren nur ein paar Momente, in denen…« Sie verstummte wieder.
»In denen was ?«, fragte Vogler nach. »Was hast du gefunden? Gibt es Anzeichen, dass Hi'schi hinter deinem Albtraum steckt?«
Bevor sie antwortete, ließ sie sich auf die Beine helfen. »Was habt ihr mir gespritzt?« Die Frage galt dem Mann hinter Vogler. Während sie auf die Antwort wartete, glitt ihr Blick über Hi'schis unverändert daliegende Gestalt.
»Ein den Kreislauf stabilisierendes Mittel.«
»Du kannst uns vertrauen«, fühlte sich Vogler offenbar bemüßigt, ihr zu versichern.
»Ich weiß. Und wir können auch ihm vertrauen.« Sie nickte zu dem Drakullen hin.
»Woraus schließt du das? Wie nah bist du ihm gekommen?«
»Sehr nah. Es klingt verrückt, aber… er ist wach.«
»Wach?« Vogler zog seine Stirn in Falten. Die Linien seiner Pigmentierung verschoben sich. Es sah ein wenig grotesk aus.
»Ich bin
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