266 - Das Todesschiff
gesehen.« Sein Blick wanderte ängstlich nach oben, doch da rührte sich nichts mehr. Hatten die Schatten den Tatort verlassen? Wenn ja, was trieben sie nun? Arbeiteten sie sich durch die Stadt, um alle Einwohner zu versteinern?
»Sie sind also übers Wasser gelaufen ? Wie Nebelschwaden?«
Sepp schreckte auf. Blondyne hatte ihren Platz verlassen und stand jetzt ganz dicht vor ihm. Sepp fragte sich, was sie von ihm wollte. Das war doch nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für… nun ja. »Ähm… ja, guter Vergleich«, krächzte er. »Sie bewegten sich in der Tat wie körperlose Schwaden. So… leicht, fast gewichtslos. Als wären sie gar nicht richtig da.«
Blondyne nickte. »Ich habe sie zwar nur kurz gesehen, aber das ist mir auch aufgefallen: Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie gehen . Sie haben auf mich gewirkt wie dunkle Tücher, die über den Boden schweben.«
»Ja!« Sepp nickte. »Besser kann man es nicht sagen.« Er begutachtete Blondyne und fragte sich, ob er es möglicherweise wert war, sich für den Rest seines Lebens in ihrer Nähe aufzuhalten.
»Wenn sie wirklich aufgrund ihrer Leichtigkeit übers Wasser gehen können«, fuhr Blondyne fort, »bedeutet das nicht auch, dass sie nicht untertauchen können?« Ihr Blick wanderte nach oben. Silbernes Mondlicht fiel auf ihr hübsches Gesicht und machte es blasser, als es war. Sepp empfand es als sehr eigenartig, dass er außer dem aufgeregten Pochen seines Herzens dort oben keine Geräusche hörte.
»In der Tat.« Er schauderte. Die oben herrschende Stille war so unheimlich, dass er den Eindruck gewann, Blondyne und er seien die einzigen lebenden Menschen auf der Erdscheibe. Durch den Gitterrost hörte man nicht mal den Wind. Die Oberwelt wirkte wie ausgestorben. Sepp stellte sich die Gassen des Ortes vor. Waren sie nur noch von Statuen bevölkert?
»Welchen Sinn hat es, Menschen zu versteinern?«, fragte Blondyne. Sie musterte ihn aus glitzernden Augen. »Sag jetzt bloß nicht, dass man die Häuser von Versteinerten leichter ausrauben kann. Wie Freibeuter kamen mir diese Schattenwesen nicht vor.«
»Mir ist etwas aufgefallen«, sagte Sepp und schluckte schwer. »Ich fürchte, sie ernähren sich von menschlichen Seelen. Indem sie sie heraussaugen, machen sie die Menschen zu Stein - und werden selbst immer stofflicher.«
»Du glaubst an die unsterbliche Seele?«, fragte Blondyne verblüfft. »So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt.«
Sepp zuckte die Schultern. »Ich hab lange Zeit im Dienst der Kristianer gearbeitet, da bleibt so was schon mal hängen«, entschuldigte er sich.
»Nein, nein, das ist schon in Ordnung«, beeilte sich Blondyne zu sagen. »Ich glaube ebenfalls an das Seelenheil - und daran, dass du recht haben könntest. Diese Kreaturen saugen das Leben aus ihren Opfern heraus!«
»Und deswegen würde ich uns dringend ans Herz legen, nicht nur aus diesem Schacht, sondern auch aus diesem Landkreis zu verschwinden«, sagte Sepp. »Und zwar so schnell wie möglich.«
Blondyne nickte. Sie deutete mit dem Säbel in Richtung Hafen. »Hier entlang.«
Sepp folgte ihr.
***
Schon nach fünf Metern sahen sie keine Hand mehr vor Augen und mussten sich blind vorantasten. Daher dauerte es eine geschlagene Stunde, bis sie den Kanalausgang unterhalb der Promenadenmauer erreichten. Kurz darauf standen sie an dem Kai, wo Sepp die Schatten zuerst gesehen hatte. Nicht fern von ihnen befanden sich die Fässer mit dem Pökelfleisch - und die Utensilien, mit denen Sepp die Karavelle hatte entern wollen. Wie schade, dass aus seinem schönen Plan nun nichts mehr wurde. Der Job bei Ole Rotbaad war nicht mehr vakant.
Sie duckten sich hinter die Fässer und analysierten die Lage. Die Häuser von Smörebröd wirkten verlassen. Die Promenade war menschenleer. Da und dort ragten reglose weiße Gestalten in die Luft - erstarrt in ihrer letzten Bewegung.
Das Schiff der Schatten - dies verdutzte Sepp am meisten - schien eigenartigerweise ebenfalls an Substanz gewonnen zu haben: Es war deutlicher sichtbar als zuvor. Die zuvor apathisch an den Rahen hängenden Segel waren nicht nur straff - sie erweckten auch den Anschein, dass sie nur auf eine Brise warteten, um die Karavelle in Bewegung zu versetzen.
Aber wo steckte die Crew? War sie nach der Entvölkerung Smörebröds an Bord zurückgekehrt? Würden die Unheimlichen wieder in See stechen? War es nötig, hier zu verweilen und sie dabei zu beobachten?
»Nicht unbedingt«, murmelte Sepp.
»Wie
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