Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
Vom Netzwerk:
und wer es ihm wie beigebracht hatte. Den Löwenanteil des Buches entfiel auf Rippchen mit Kartoffel- oder Apfelmus, die er im Gefängnis gemacht hatte, und auf das Problem, an einem solchen Ort an die Zutaten heranzukommen und sie zuzubereiten, wo einem neben vielen anderen Dingen auch das Kochen verwehrt wird. Das Buch war kein Erfolg, brachte Seaman aber wieder ins Gespräch, und er trat in verschiedenen Vormittagssendungen auf, wo er live einige seiner berühmten Rezepte vorführte. Mittlerweile war sein Name wieder in Vergessenheit geraten, doch reiste er weiter durchs ganze Land und hielt seine Vorträge, manchmal bloß für eine Rückfahrtkarte und dreihundert Dollar.
    Neben dem Tisch, an dem er schrieb und an den sie sich setzten, um Kaffee zu trinken, hing ein Schwarzweißplakat, auf dem zwei junge Männer in schwarzen Jacken, schwarzen Baskenmützen und schwarzen Sonnenbrillen zu sehen waren. Fate lief es kalt den Rücken herunter, nicht wegen des Plakats, sondern weil es ihm nicht gut ging, und nach dem ersten Schluck Kaffee fragte er, ob Seaman einer der Jungs sei. Stimmt, sagte Seaman. Und welcher von beiden?, fragte er. Seaman lächelte. Er hatte nicht einen Zahn im Mund.
    »Schwer zu entscheiden, wie?«
    »Ich weiß nicht, es geht mir nicht gut, sonst würde ich bestimmt draufkommen«, sagte Fate.
    »Der rechte, der kleinere«, sagte Seaman.
    »Wer ist der andere?«, sagte Fate.
    »Weißt du das wirklich nicht?«
    Er sah sich das Plakat noch einmal genauer an.
    »Das ist Marius Newell«, sagte Fate.
    »Richtig«, sagte Seaman.
    Seaman zog sich eine Jacke über. Dann ging er ins Schlafzimmer, und als er zurückkam, trug er einen dunkelgrünen Hut mit schmaler Krempe. Aus einem Glas im schwach erleuchteten Badezimmer fischte er sein künstliches Gebiss, das er sich behutsam einsetzte. Fate beobachtete ihn vom Wohnzimmer aus. Er spülte den Mund mit einer rötlichen Flüssigkeit, die er ins Waschbecken spuckte, spülte mit Wasser nach und sagte, er sei so weit.
    Sie fuhren in Fates Mietwagen zum Rebecca-Holmes-Park, zwanzig Blocks entfernt. Da noch Zeit blieb, parkten sie den Wagen am Rand des Parks und plauderten miteinander, während sie sich die Beine vertraten. Der Park war groß, und mittendrin, geschützt von einem baufälligen Zaun, gab es ein spezielles Areal für Kinder namens Memorial Temple A. Hoffman, wo sie kein einziges spielendes Kind trafen. Tatsächlich war der Spielplatz bis auf ein paar Ratten, die bei ihrem Anblick davonliefen, völlig leer. Neben einem Eichenwäldchen hatte man eine Pergola in einem östlich anmutenden Stil errichtet, gleichsam die Miniaturausgabe einer russisch-orthodoxen Kirche. Von der Rückseite der Pergola drang Rap-Musik herüber.
    »Ich verabscheue diesen Scheiß«, sagte Seaman, »dass das klar wird in deinem Artikel.«
    »Warum?«, fragte Fate.
    Sie näherten sich der Pergola und sahen neben ihr das jetzt gänzlich ausgetrocknete Bett eines Teiches. In dem erstarrten Schlamm hatten sich die Abdrücke von Nike-Schuhen erhalten. Fate dachte an die Dinosaurier und spürte, wie ihm erneut übel wurde. Sie gingen um die Pergola herum. Dort stand auf dem Boden neben ein paar Büschen der Radiorekorder, aus dem die Musik kam. Weit und breit war niemand zu sehen. Seaman sagte, dass er Rap nicht leiden könne, weil der einzige Ausweg, den er anzubieten habe, der Selbstmord sei. Und nicht einmal ein sinnvoller Selbstmord. Ich weiß, ich weiß, sagte er. Es fällt schwer, sich einen sinnvollen Selbstmord vorzustellen. Eigentlich gibt es so etwas nicht. Und doch habe ich zwei Selbstmorde gesehen oder aus der Nähe miterlebt, die sinnvoll waren. Glaube ich. Vielleicht irre ich mich auch, sagte er.
    »Inwiefern tritt Rap für Selbstmord ein?«, fragte Fate.
    Seaman antwortete ihm nicht und führt ihn durch eine Schneise zwischen den Bäumen, über die sie auf eine Wiese gelangten. Auf dem Gehweg spielten drei Mädchen Seilhüpfen. Das Lied, das sie dazu sangen, kam ihm höchst seltsam vor. Es handelte von einer Frau, der man Arme, Beine und Zunge amputiert hatte. Und von der Kanalisation von Chicago und dem Chef oder einem Beamten der städtischen Kanalisation namens Sebastian D'Onofrio. Dann folgte der Refrain Chi-Chi-Chi-Chicago. Weiter handelte es vom Einfluss des Mondes. Und davon, dass der Frau Beine aus Holz, Arme aus Draht und eine Zunge aus geflochtenen Pflanzen und Gräsern wuchsen. Vollkommen verwirrt fragte Fate nach seinem Wagen, und der Alte antwortete, er

Weitere Kostenlose Bücher