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war in Algerien und in China und in verschiedenen Gefängnissen der Vereinigten Staaten. Es gibt nichts, das einer Mutter gleichkäme. Das sage ich hier und das sage ich überall und jederzeit, sagte er mit rauer Stimme. Noch einmal bat er um Entschuldigung und drehte sich zum Altar hin um; dann wandte er sich wieder der Menge zu. Newell wurde, wie Sie wissen, ermordet. Ermordet von einem Schwarzen wie Sie und ich, ermordet eines Nachts in Santa Cruz, Kalifornien. Ich hatte ihn gewarnt. Marius, geh nicht zurück nach Kalifornien, da gibt es eine Menge Polizisten, die uns auf dem Kieker haben. Aber er hörte nicht auf mich. Er war gern in Kalifornien. Er ging gern sonntags in die Klippen und liebte den Geruch des Pazifiks. Als wir beide im Gefängnis saßen, bekam ich manchmal Postkarten von ihm, auf denen er schrieb, er habe im Traum Seeluft geatmet. Und das ist seltsam, ich kenne wenige Schwarze, die das Meer so lieben. Eigentlich keinen, vor allem nicht in Kalifornien. Aber ich weiß, was Marius sagen wollte, ich weiß, was das bedeutet. Nun, ehrlich gesagt habe ich dazu eine Theorie, dazu, warum wir Schwarzen das Meer nicht mögen. Wir mögen es schon. Aber wir mögen es nicht so wie andere Leute. Aber meine Theorie tut hier nichts zur Sache. Marius sagte, die Verhältnisse in Kalifornien hätten sich geändert. Es gäbe jetzt beispielsweise viel mehr schwarze Polizisten. Das stimmt. Das hat sich geändert. Aber auf anderen Gebieten ist alles beim Alten geblieben. Auf manchen nicht, das muss man anerkennen. Und Marius erkannte das an und wusste, dass das zum Teil unser Verdienst war. Mit den Black Panther hatten wir zur Veränderung beigetragen. Mit einem Sandkorn oder einer Wagenladung. Jedenfalls hatten wir dazu beigetragen. Auch Marius' Mutter und alle anderen schwarzen Mütter haben dazu beigetragen, wenn sie nachts statt zu schlafen geweint haben und sich die Tore der Hölle ausmalten. Er beschloss also, nach Kalifornien zurückzugehen und das an Leben zu verbringen, was ihm noch vergönnt war, friedlich, ohne jemandem weh zu tun, vielleicht auch eine Familie zu gründen und Kinder aufzuziehen. Er sagte immer, er werde seinen ersten Sohn Frank nennen, in Erinnerung an einen Freund, der im Gefängnis von Soledad gestorben war. Tatsächlich hätte er mindestens dreißig Kinder haben müssen, um das Andenken der toten Freunde zu ehren. Oder zehn, und jedem drei Namen geben. Die Wahrheit aber ist, dass er kein einziges hatte, denn eines Nachts wurde er auf offener Straße in Santa Cruz von einem Schwarzen ermordet. Angeblich wegen Geld. Angeblich schuldete Marius ihm Geld und wurde deswegen ermordet, aber das zu glauben fällt mir schwer. Ich glaube, dass jemand für seinen Tod bezahlt hat. Marius kämpfte damals gegen den Drogenhandel in den Vierteln, und das hat jemandem nicht gepasst. Möglicherweise. Ich saß noch im Gefängnis und weiß nicht, was wirklich geschehen ist. Ich habe einige Theorien, zu viele Theorien. Ich weiß nur, dass Marius in Santa Cruz gestorben ist, wo er nicht wohnte, wo er ein paar Tage verbringen wollte, und es ist schwer vorstellbar, dass der Mörder dort lebte. Das bedeutet: Der Mörder war Marius gefolgt. Und der einzige Grund, der mir einfällt, um mir Marius' Anwesenheit in Santa Cruz zu erklären, ist das Meer. Marius kam, um den Pazifik zu sehen und zu riechen. Und der Mörder kam nach Santa Cruz, weil er Marius' Fährte folgte. Und es geschah, was geschehen ist. Manchmal stelle ich mir Marius vor. Öfter als mir eigentlich lieb ist. Ich sehe ihn dann an einem Strand in Kalifornien, irgendwo in Big Sur zum Beispiel, oder am Strand von Monterrey, nördlich von Fisherman's Wharf, unterwegs auf dem Highway 1. Er lehnt am Geländer eines Aussichtspunkts, hat uns den Rücken zugewandt. Es ist Winter, und Touristen sind kaum zu sehen. Wir Black Panther sind jung, keiner älter als fünfundzwanzig. Wir sind alle bewaffnet, haben aber die Waffen im Auto gelassen, und aus unseren Gesichtern spricht tiefe Unzufriedenheit. Das Meer braust. Ich gehe zu Marius und sage, lass uns von hier verschwinden. Und in dem Moment dreht Marius sich um und sieht mich an. Er lächelt. Er ist wie weggetreten. Und er zeigt mit dem Finger aufs Meer, weil er nicht in Worte fassen kann, was er empfindet. Und dann kriege ich einen Schreck, obwohl es mein Bruder ist, der neben mir steht, und denke: Die Gefahr ist das Meer.
GELD. Kurz gesagt: Geld hielt Seaman für notwendig, aber nicht für so notwendig wie
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